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Flucht nach vorne – löst der EU-Beitritt die Schweizer Blockade?

Alternativen in der Europapolitik (5/5) Flucht nach vorne – löst der EU-Beitritt die Schweizer Blockade?

In der Schweiz wird nicht mehr breit über einen EU-Beitritt diskutiert, was man aufgrund der geographischen Lage eigentlich erwarten müsste. In wirtschaftlicher Hinsicht scheinen denn auch die Nachteile einer Mitgliedschaft zu überwiegen. Der bilaterale Weg bleibt damit auf absehbare Zeit das bevorzugte Modell zur Schweizer Teilnahme am europäischen Binnenmarkt.

 

Dieser Artikel ist der letzte Teil einer Serie über die europapolitischen Alternativen der Schweiz. Zur Übersicht


In Unkenntnis der Schweizer Ausgangslage würde man eigentlich annehmen, dass ein EU-Beitritt eine sehr naheliegende Alternative sein müsste. Doch schon bevor der Bundesrat 2016 formal das Schweizer Beitrittsgesuch zurückzog, verschwand diese Option grösstenteils aus der öffentlichen Debatte. Auch europapolitische Umfragen zeigen ziemlich zuverlässig, dass nur noch eine kleine Minderheit die Schweiz gerne in der EU sehen würde. Aus Sicht der Ostschweizer Wirtschaft lässt sich feststellen: vermutlich zu Recht.

Die Schweiz würde mitentscheiden…

Was bedeutet eine EU-Mitgliedschaft in wirtschaftlicher Hinsicht? Zunächst würde die Schweiz den gesamten EU-Rechtsbestand übernehmen. Im Gegensatz zu einer EWR-Mitgliedschaft würde sie damit auch Teil der Zollunion werden, und damit an der gemeinsamen Aussenwirtschaftspolitik der EU teilhaben. Im Bereich der Geld- und Währungspolitik könnte die Schweiz versuchen, Ausnahmen auszuhandeln (d.h. keine Übernahme des Euros). Garantiert sind solche Ausnahmen jedoch nicht. Als EU-Mitglied wäre die Teilnahme am europäischen Binnenmarkt umfassend abgesichert, und die Schweiz könnte in den Gesetzgebungsprozessen der EU mitbestimmen – beides wären sicherlich Verbesserungen im Vergleich zum Status Quo.

… aber zu welchem Preis?

Dennoch scheinen auch in wirtschaftlicher Hinsicht die Nachteile einer Mitgliedschaft aktuell zu überwiegen. Zweifelsohne würde eine EU-Mitgliedschaft zu einer höheren Regulierungsdichte führen, dies vor allem in einer Übergangsphase. Die Beiträge an den EU-Haushalt, die Mitwirkung in den EU-Institutionen und die Verpflichtung zur Durchführung des gesamten EU-Rechtsbestands würde höhere Staatsausgaben nach sich ziehen. Ferner müsste die Schweiz ihre heute weitgehend eigenständige Aussenwirtschafts- und Währungspolitik aufgeben (Letzteres natürlich nur, sofern keine Ausnahme betreffend die Einführung des Euro vereinbart werden kann), und sie hätte fortan Beschränkungen bei der Ausgestaltung der Fiskal-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Zudem müssten wohl die Volksrechte an die neuen europapolitischen Vorgaben angepasst werden – entweder, die Schweiz ist EU-Mitglied oder nicht. Referenden gegen Bundesgesetze wären sinnvollerweise nurmehr möglich, sofern der Schweiz bei der Umsetzung von EU-Recht Spielraum verbleibt. Volksinitiativen müssten zusätzlich wohl auf ihre Europa-Kompatibilität geprüft werden.

Die Nachteile überwiegen

Durch eine EU-Mitgliedschaft würden also Reformen des politischen Systems der Schweiz vorgenommen werden müssen, die als negativ zu beurteilen sind. Zudem würde die Autonomie im wesentlichen Bereichen der Wirtschaftspolitik weiter eingeschränkt (Fiskal- Arbeitsmarkt-, Handels- und Geldpolitik.) Positiv hervorzuheben wäre demgegenüber die Möglichkeit der Schweiz, sich in der für sie ohnehin dominanten EU-Gesetzgebung einzubringen. In Bezug auf die Binnenmarktteilnahme ist insgesamt fraglich, ob verglichen mit einem EWR-Beitritt insgesamt ein Zusatznutzen resultieren würde.

Fazit: Der bilaterale Weg bleibt die bevorzugte Option

Die sektorielle Teilnahme am europäischen Binnenmarkt ist für die Ostschweizer Wirtschaft von grosser Bedeutung. So fliessen etwa rund zwei Drittel der Exporte in die EU. Aktuell wird diese Marktteilnahme noch über die bilateralen Verträge gesichert, welche gegenüber einem klassischen Freihandelsabkommen eine engere Anbindung an den europäischen Binnenmarkt ermöglichen. Doch damit das auch in Zukunft so bleibt, müssen die Streitpunkte zwischen der EU und der Schweiz geklärt werden – der Status Quo ist keine valable Option, darüber herrscht weitestgehend Konsens. Die Schweiz muss sich also entscheiden, auf welcher Basis sie künftig ihre Beziehungen zur EU regeln möchte.

In dieser Artikelreihe wurden die wichtigsten Alternativen, welche die Schweiz hat, beleuchtet. Dabei zeigte sich: Der Freihandelsansatz trägt den Bedürfnissen der Ostschweizer Wirtschaft zu wenig Rechnung. Umgekehrt ist auch eine weitergehende Integration in den Binnenmarkt (EU- oder EWR-Beitritt), mit Nachteilen verbunden. Somit bleibt der massgeschneiderte bilaterale Weg das bevorzugte Modell zur Schweizer Teilnahme am europäischen Binnenmarkt. Es gilt nun, die offenen Punkte mit der EU zeitnah zu klären, um die bilateralen Verträge stabilisieren und weiterentwickeln zu können.

Zum vorherigen Artikel: Der EWR.

 

IHK-Vademecum zu den bilateralen Beziehungen

Die EcoOst-Publikation "Wie weiter in der Europapolitik? Handlungsbedarf und Alternativen" gibt einen Überblick über die europapolitischen Optionen der Schweiz und leitet die gemeinsame Position der IHK St.Gallen-Appenzell und Thurgau her. Das Vademecum soll den Mitgliedern und einer interessierten Öffentlichkeit als Nachschlagewerk in diesem komplexen Dossier dienen und sie zu einer detaillierten Befassung mit der europapolitischen Zukunft der Schweiz einladen.

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