Sie sind hier

Warum ein Freihandelsabkommen nicht ausreicht

Alternativen in der Europapolitik (2/5) Warum ein Freihandelsabkommen nicht ausreicht

Ein reiner Freihandelsansatz würde der Schweiz etwas mehr Autonomie bei der Gesetzgebung geben. Doch damit würde der starken Verflechtung mit Europa nur ungenügend Rechnung getragen – die Schweiz ist keine Insel.

 

Dieser Artikel ist der zweite Teil einer Serie über die europapolitischen Alternativen der Schweiz. Zur Übersicht 


Mit dem Freihandelsabkommen von 1972 wurde der Grundstein für die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU gelegt. Obwohl etwas in die Jahre gekommen, regelt dieses Abkommen bis heute den Abbau von Zöllen und Mengenbeschränkungen im Warenverkehr – ein klassisches Freihandelsabkommen also. Modernere oder «umfassende» FHA zielen auf weitere Handelserleichterungen wie die Öffnung gewisser Dienstleistungsmärkte ab. Ein Beispiel für ein solches modernes Freihandelsabkommen ist das Trade and Cooperation Agreement (TCA) zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU, welches seit dem Brexit die Wirtschaftsbeziehungen der beiden Parteien regelt. Die bilateralen Verträge gehen demgegenüber darüber hinaus und erlauben der Schweiz in diversen Bereichen eine nahezu gleichberechtigte Teilnahme am europäischen Binnenmarkt – unter Einhaltung derselben Pflichten. Was wäre nun, wenn die Schweiz die Bilateralen aufgeben würde und sich (ähnlich wie Brexit-Grossbritannien) mit einem Freihandelsabkommen begnügen würde?

Etwas mehr Autonomie…

Das brächte durchaus gewisse Vorteile mit sich: Ein Freihandelsabkommen ist ein Vertrag «auf Augenhöhe». Damit hat die Schweiz theoretisch keine Verpflichtung, sich am EU-Recht zu orientieren. So entfallen etwa die Frage nach einer dynamischen Rechtsübernahme oder der Rolle des europäischen Gerichtshofs bei der Streitbeilegung – zwei Punkte, welche beim institutionellen Abkommen kontrovers diskutiert wurden. Die Schweiz erhält zudem formale Autonomie in Bereichen zurück, in denen sie jetzt abhängig von der EU-Gesetzgebung resp. von den bilateralen Verträgen ist: Zum Beispiel könnte sie die Zuwanderung wieder eigenständig steuern. Hierzu muss jedoch gesagt werden, dass sich die Schweiz auch ohne Verträge stark am europäischen Recht ausrichtet, weil das meistens in ihrem Interesse ist (sog. autonomer Nachvollzug). Der Brexit zeigte zudem, dass die EU bei wichtigen Freihandelspartnern auf der Einhaltung gleicher Wettbewerbsbedingungen beharrt – auch Grossbritannien muss sich in vielen wirtschaftlichen Belangen noch am Niveau der europäischen Gesetzgebung orientieren, hat dabei aber mehr Spielraum in der konkreten Ausgestaltung.  

…mit einem hohen Preisschild

Umgekehrt hätte ein Wegfall der Bilateralen einschneidende Konsequenzen für die Wirtschaft und das Zusammenleben, insbesondere in den Grenzregionen: So müssten wohl umfangreiche Kontrollen an den Aussengrenzen eingeführt werden, was den Warenhandel und die grenzübergreifenden Pendlerströme stark behindern würde. Zudem wären Schweizer Produktzertifizierungen in der EU nicht mehr anerkannt (und evtl. auch umgekehrt).  Dies würde sich negativ auf die Exportwirtschaft auswirken, und die Verlagerung von Produktionsstätten aus der Schweiz in die EU begünstigen. Nicht zuletzt wäre auch die Personenfreizügigkeit inkl. der gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen hinfällig – die Rekrutierung europäischer Fachkräfte wäre deutlich erschwert. In der Summe wäre wohl mit bedeutenden Wohlstandseinbussen zu rechnen: Eine BAK-Studie im Auftrag der IHK von 2020 quantifiziert das Szenario eines Wegfalls der Bilateralen I mit einem bis 2040 geringeren Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf von 7,4% in der Ostschweiz. Pro Kopf entspricht dies einem Einkommensverlust von 4280 CHF pro Jahr.

Keine ausreichende Lösung

Ein Rückfall auf das FHA von 1972 trägt der Intensität der wirtschaftlichen Beziehungen zur EU also insgesamt nicht genügend Rechnung. Eine mangelnde Einbindung in den europäischen Binnenmarkt ist ein grosser Standortnachteil, und im Alltag von Wirtschaft und Bevölkerung in Grenzregionen wie der Ostschweiz würden sich erhebliche Störungen bemerkbar machen. Auch modernere Freihandelsabkommen bieten nicht annähernd dieselbe Anbindung an den Binnenmarkt wie die Bilateralen. Will die Schweiz keine bedeutenden Wohlstandseinbussen in Kauf nehmen, sollte sie also Verträge anstreben, welche weiter gehen als ein reines Freihandelsabkommen.

Zum nächsten Artikel: Der bilaterale Weg

Zum vorherigen Artikel: Der Status Quo  

 

IHK-Vademecum zu den bilateralen Beziehungen

Die EcoOst-Publikation "Wie weiter in der Europapolitik? Handlungsbedarf und Alternativen" gibt einen Überblick über die europapolitischen Optionen der Schweiz und leitet die gemeinsame Position der IHK St.Gallen-Appenzell und Thurgau her. Das Vademecum soll den Mitgliedern und einer interessierten Öffentlichkeit als Nachschlagewerk in diesem komplexen Dossier dienen und sie zu einer detaillierten Befassung mit der europapolitischen Zukunft der Schweiz einladen.

Diese Beiträge könnten
Sie ebenfalls interessieren: