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Der bilaterale Weg – ein gutschweizerischer Kompromiss

Alternativen in der Europapolitik (3/5) Der bilaterale Weg – ein gutschweizerischer Kompromiss

Mit den bilateralen Verträgen ist die Schweiz in den vergangenen 20 Jahren gut gefahren. Sie ermöglichen in wichtigen Bereichen eine vertiefte Zusammenarbeit mit der EU – jedoch nur dort, wo dies auch den Bedürfnissen der Schweiz entspricht. Es wäre daher unklug, diesen Weg vorschnell zu verlassen.

 

Dieser Artikel ist der dritte Teil einer Serie über die europapolitischen Alternativen der Schweiz. Zur Übersicht


Der europäische Binnenmarkt ist die wohl wichtigste wirtschaftliche Errungenschaft der EU. Im Gegensatz zu einer Freihandelszone, deren Ziel der möglichst hindernisfreie Warenverkehr ist, sollen in einem Binnenmarkt alle Produktionsfaktoren möglichst frei zirkulieren können. So wurde bis 1993 der europäische Binnenmarkt mit seinen vier Freiheiten geschaffen: Die Freiheiten des Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehrs. Es ist heute wenig umstritten, dass dieser Binnenmarkt dem Wohlstand der Mitgliedstaaten insgesamt förderlich war.

Ein Schweizer Sonderfall

Jene Staaten, welche damals keine EU-Mitglieder waren, befürchteten bedeutende wirtschaftliche Nachteile, sollten sie nicht auch am Binnenmarkt teilnehmen können. Das ist wohl mit ein Grund, weshalb Österreich, Schweden und Finnland bis 1995 der EU beitraten. Die Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein verhandelten hingegen den EWR (Europäischer Wirtschaftsraum), welcher eine Binnenmarktteilnahme ohne EU-Mitgliedschaft ermöglichte. Doch die Schweiz sprach sich schlussendlich gegen eine EWR-Teilnahme aus.

Als Reaktion darauf verhandelte die Schweiz mit der EU die bilateralen Verträge. Deren Ziel ist es, in ausgewählten Bereichen dieselben Rechte und Pflichten zu schaffen, wie dies der EWR vorgesehen hätte. So kann die Schweiz heute, mit den Bilateralen I und II sowie ergänzenden Verträgen, sektoriell am europäischen Binnenmarkt teilnehmen. Über diese Teilnahme wird der Ostschweizer Wirtschaft in vielen Bereichen ein präferenzieller Zugang, teilweise auch eine nahezu gleichberechtigte Stellung im europäischen Binnenmarkt ermöglicht. Eine einzigartige Position: Die Schweiz entscheidet, in welchen Bereichen sie teilnehmen will. Kein anderer Staat in Europa hat eine solche Position im Binnenmarkt.

Gleiche Rechte – Gleiche Pflichten

Doch dort, wo sie am Binnenmarkt teilnimmt, hat die Schweiz auch Pflichten: Sie akzeptiert EU-Recht als Grundlage der bilateralen Beziehungen. Das ist keine neue Tatsache, sondern war bereits beim Aushandeln, beim Unterzeichnen, und bei den Volksabstimmungen zu den Bilateralen I bekannt. Die EU hätte in den Verhandlungen kaum etwas anderes akzeptiert: die einheitliche Anwendung des Binnenmarktrechts ist für sie ein zentraler, wenn nicht gar unverrückbarer Rechtsgrundsatz. Wo Ausnahmen für einzelne Staaten existieren, sind diese klar definiert und nur in engstem Rahmen vorhanden.

Weil sich das europäische Recht permanent weiterentwickelt, fordert die EU bereits seit 2008 eine Anpassung der institutionellen Fragen. Das sind die Spielregeln, nach denen die bilateralen Verträge an diese Rechtsentwicklungen angepasst werden. Will die Schweiz den bilateralen Weg weiterführen, so muss für diese institutionellen Fragen eine Lösung gefunden werden – ansonsten garantiert die EU das Funktionieren der bilateralen Verträge in Zukunft nicht mehr. Zudem ist sie nicht mehr bereit, mit der Schweiz über neue Verträge zu verhandeln. Damit verliert der rechtliche Unterbau der bilateralen Beziehungen schrittweise seine Bedeutung: dies ist die sogenannte Erosion der Bilateralen.

Bewährtes beibehalten

Aus Sicht der Ostschweizer Wirtschaft waren die bilateralen Verträge dabei eine Erfolgsgeschichte: Die starke, exportorientierte Industriebasis der Region ist auf tragfähige, rechtssichere Beziehungen zum europäischen Ausland angewiesen. Denn dorthin geht ein Grossteil ihrer Exporte. Für die grenzüberschreitenden Wertschöpfungsketten im Bodenseeraum sind stabile rechtliche Verhältnisse zur EU ebenfalls von grosser Bedeutung. Für die IHK ist deshalb klar, dass der bilaterale Weg zeitnah stabilisiert und weiterentwickelt werden muss. Institutionelle Ansätze, welche dies bewerkstelligen können, sind grundsätzlich zu begrüssen. Demgegenüber lassen ein EWR- und insbesondere auch ein EU-Beitritt weniger Rücksicht auf die institutionellen Besonderheiten der Schweiz zu (mehr dazu in den letzten beiden Teilen dieser Serie). Somit bleibt es dabei: Auf absehbare Zeit bleibt der bilaterale Weg der Königsweg.

Zum nächsten Artikel: Der EWR

Zum vorherigen Artikel: Freihandelsabkommen

 

IHK-Vademecum zu den bilateralen Beziehungen

Die EcoOst-Publikation "Wie weiter in der Europapolitik? Handlungsbedarf und Alternativen" gibt einen Überblick über die europapolitischen Optionen der Schweiz und leitet die gemeinsame Position der IHK St.Gallen-Appenzell und Thurgau her. Das Vademecum soll den Mitgliedern und einer interessierten Öffentlichkeit als Nachschlagewerk in diesem komplexen Dossier dienen und sie zu einer detaillierten Befassung mit der europapolitischen Zukunft der Schweiz einladen.

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