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Nach 30 Jahren doch noch in den EWR?

Alternativen in der Europapolitik (4/5) Nach 30 Jahren doch noch in den EWR?

Seit dem Verhandlungsabbruch beim institutionellen Abkommen findet auch der EWR in der Schweiz wieder mehr Beachtung. Tatsächlich ist dieses Modell in wirtschaftlicher Hinsicht eine interessante Option. Dennoch nimmt der massgeschneiderte bilaterale Weg besser auf die Interessen der Schweiz Rücksicht.

 

Dieser Artikel ist der vierte Teil einer Serie über die europapolitischen Alternativen der Schweiz. Zur Übersicht 


Es war wohl jene Volksabstimmung, welche die Schweizer Europadebatte bis heute am stärksten geprägt hat: 1992 sagten 50,3% der Stimmbevölkerung Nein zum Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), bei einer rekordhohen Stimmbeteiligung. Erst zehn Jahre später gelang es, mit den Bilateralen I die Beziehungen zur EU wieder auf ein tragfähiges Fundament zu stellen. Doch seit dem Verhandlungsabbruch beim institutionellen Abkommen ist einmal mehr unklar, wie diese Beziehungen in Zukunft aussehen sollen. Ist es also nach 30 Jahren doch noch an der Zeit, dass die Schweiz dem EWR beitritt?

Eine prüfenswerte Option

Würde die Schweiz sich zu diesem Schritt entscheiden, erhielte sie grundsätzlich dieselbe rechtliche Ausgangslage wie heute Norwegen, Island und Liechtenstein. Dies bedeutet eine praktisch vollständige Integration in den EU-Binnenmarkt, was auch die komplette Übernahme des EU-Binnenmarktrechts nach sich ziehen würde. Für hiesige Unternehmen wäre damit ein hohes Mass an Rechtssicherheit und ein Ende heutiger Ungleichbehandlungen verbunden, es würden dieselben Wettbewerbsbedingungen gelten wie sonst überall im EU-Binnenmarkt. Gleichzeitig fände keine Teilnahme an der Währungsunion statt. Somit würde sich im Gegensatz zum EU-Beitritt die Diskussion erübrigen, ob die Schweiz den Euro übernehmen müsste. Ebenfalls könnte die Schweiz, im Vergleich zu den EU-Mitgliedstaaten, nach wie vor frei über ihre Aussenhandelspolitik bestimmen, also etwa eigene Freihandelsabkommen abschliessen. Zudem bedeutet eine EWR-Mitgliedschaft auch keine Teilnahme an den politischen Dimensionen der EU. Mit dem EFTA-Gerichtshof und der EFTA-Überwachungsbehörde ESA verfügt der EWR zudem über eigene Institutionen, welche sich in der Praxis bewährt haben – damit würde sich die Diskussion über die Rolle des EuGH bei Verträgen, welche die Schweiz betreffen, entschärfen. Die Schweiz hätte zudem im Rahmen des EWR ein garantiertes Mitspracherecht bei Gesetzen, welche den Binnenmarkt betreffen («decision shaping»): Sie könnte nicht, wie bei einer EU-Mitgliedschaft, über diese Gesetze mitbestimmen, würde aber dennoch näher an die Gesetzgebungsprozesse der EU rücken.

Nachteile nicht ausser Acht lassen

Aus wirtschaftlicher Sicht ist eine EWR-Teilnahme damit sicherlich interessant. Im direkten Vergleich zu einer Stabilisierung und Fortführung des bilateralen Wegs stellt sich dennoch die Frage, ob der EWR die bevorzugte europapolitische Option der Schweiz sein soll: Denn über die bilateralen Verträge hat die Schweiz in jenen Bereichen eine sektorielle Binnenmarktteilnahme erhalten, in denen das in ihrem Interesse ist – und in jenen Bereichen, in der sie das nicht will, nicht. Demgegenüber ist der EWR eine «One size fits all»-Lösung: Die Schweiz würde nicht nur das gesamte Binnenmarktrecht übernehmen, sondern müsste auch alle Aufdatierungen zusammen mit den anderen EWR-Staaten aushandeln. Dabei würden rechtliche Präzedenzfälle im EWR auch auf die Schweiz ausstrahlen: beispielsweise wurde die Unionsbürgerrichtlinie, deren allfällige Übernahme hierzulande kontrovers diskutiert wurde, im Grundsatz in das EWR-Abkommen übernommen. Zwangsläufig würde mit der kompletten Übernahme des EU-Binnenmarktrechts auch eine höhere Regulierungsdichte für hiesige Unternehmen einhergehen, mit einem Zuwachs vor allem in einer Übergangsphase. Auch in zeitlicher Hinsicht würden die umfangreichen Verhandlungen und die Umsetzung eines EWR-Beitritts vermutlich keine zeitnahe Stabilisierung der Beziehungen zur EU ermöglichen.

Insgesamt haben die Bilateralen also auch gegenüber einer EWR-Mitgliedschaft Vorteile, da sie spezifisch auf die Schweiz abgestimmt wurden. Eine Stabilisierung und Weiterentwicklung des bilateralen Wegs bleibt somit die bevorzugte Option. Gleichwohl sichert der EWR eine sehr weitreichende Binnenmarktteilnahme, womit er als möglicher Weg im Falle eines Scheiterns jeglicher bilateralen Lösung zu prüfen wäre.  

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Zum vorherigen Artikel: Der bilaterale Weg

 

IHK-Vademecum zu den bilateralen Beziehungen

Die EcoOst-Publikation "Wie weiter in der Europapolitik? Handlungsbedarf und Alternativen" gibt einen Überblick über die europapolitischen Optionen der Schweiz und leitet die gemeinsame Position der IHK St.Gallen-Appenzell und Thurgau her. Das Vademecum soll den Mitgliedern und einer interessierten Öffentlichkeit als Nachschlagewerk in diesem komplexen Dossier dienen und sie zu einer detaillierten Befassung mit der europapolitischen Zukunft der Schweiz einladen.

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