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Wir sollten es besser wissen

Sackgasse Altersvorsorge Wir sollten es besser wissen

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Markus Bänziger IHK-Direktor

Bei der Altersvorsorge besteht Handlungsbedarf, dies ist unbestritten. Die im Raum stehenden Reformentwürfe lassen jedoch daran zweifeln, ob man damit in der Lage ist, die künftigen Herausforderungen konsequent anzugehen. Dabei gäbe es durchaus griffige Massnahmen, um das Sorgenkind Altersvorsorge auf den richtigen Weg zu bringen.

Im Rahmen von Zukunft Ostschweiz 2019 haben wir uns dem Schwerpunktthema Vereinbarkeit Familie und Beruf gewidmet. Im Vordergrund stand dabei der Fachkräftemangel. Wir haben aufgezeigt, dass das Näherrücken der geburtenstärksten Jahrgänge der 1960er-Jahre, der sogenannten Babyboomer, an das Pensionierungsalter den ohnehin schon bestehenden Mangel an Fachkräften noch verstärken wird. Durch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf kann die Erwerbsbeteiligung erhöht und somit auch dem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden. Doch die bevorstehende Pensionierung der Babyboomer hat auch eine andere Seite: Immer weniger Personen im erwerbsfähigen Alter stehen einer noch stark steigenden Gruppe von Menschen im Pensionsalter gegenüber. Damit diese ihren verdienten Lebensabend in Würde verbringen können und damit auch künftige Generationen dies noch können, braucht es wesentliche Korrekturen bei der selbst etwas in die Jahre gekommenen Schweizer Altersvorsorge. Die Politik weiss dies, handelt aber nicht.

Die Rechnung geht nicht mehr auf …

Doch was ist genau passiert? Die AHV wurde 1948 eingeführt und bildet die erste der drei Säulen der Schweizer Altersvorsorge. Ihre Idee ist bestechend einfach: Die jeweils arbeitende Generation zahlt über Lohnbeiträge die Renten der Pensionierten – das Umlageverfahren. Rentenalter war damals 65 für beide Geschlechter. Weder an die steigende Lebenserwartung noch an den allgemeinen gesundheitlichen Zustand wurde das Rentenalter angepasst. Im Gegenteil: Das Renteneinstiegsalter für Frauen wurde gar auf 62 reduziert, dann in langwierigen politischen Prozessen wieder auf 64 erhöht. Das System funktioniert jedoch nur so lange, wie sich die arbeitstätige Generation sicher sein kann, dass die nächste Generation für sie dasselbe tun wird; der Generationenvertrag entsteht. 1948 finanzierten 100 Personen im erwerbstätigen Alter rund 15 im Ruhestand. Heute finanziert die Erwerbsbevölkerung doppelt so viele Rentner, 2050 werden es mehr als dreimal so viele sein. Denn wir werden nicht nur immer älter, gleichzeitig zeugen wir auch immer weniger Kinder. Am deutlichsten zeigt sich diese Entwicklung wiederum an der Generation der Babyboomer: Als diese zwischen 1985 und 1994 in den Arbeitsmarkt eintrat, traten jährlich rund 31 000 Personen mehr in den Arbeitsmarkt ein als aus, was die Finanzierung der AHV garantierte. Wenn dieselbe Generation nun 2025 bis 2034 in den Ruhestand geht, so wird die Schweiz das Gegenteil erleben: Per Saldo verlassen über 30 000 Personen den Arbeitsmarkt pro Jahr. Wie finanziert eine kleiner werdende Anzahl Erwerbspersonen eine rasant ansteigende pensionierte Bevölkerung und hält damit den ­Generationenvertrag ein? Die Rechnung geht, unter den statischen Annahmen der 1948 eingeführten AHV, nicht mehr auf.

… nicht nur bei der AHV

Die Entwicklung der Lebenserwartung ist durchaus erfreulich: Wir leben länger, wir leben besser und gesünder. Wir arbeiten bezogen auf unsere Lebenszeit deutlich weniger lang und geniessen das Leben deutlich länger: Momentan werden wir pro Jahr etwa zwei Monate älter. Doch wenn wir immer weniger arbeiten im Vergleich zum Ruhestand, dann zahlen wir relativ gesehen auch weniger in die Pensionskasse ein – die zweite Säule der Schweizer Altersvorsorge. Diese wurde 1985 als obligatorisch erklärt, man rechnete damals mit 15 Jahren Ruhestand pro Rentner, heute sind es im Schnitt 20. Im Gegensatz zur AHV basiert die 2. Säule auf dem Kapitalverfahren: Das Geld wird nicht umverteilt, sondern für jeden Einzelnen im Kollektiv angelegt, und das Kapital wirft Zinsen ab. Nun definiert jedoch das Gesetz, dass bei Rentenantritt pro Jahr 6,8% des obligatorisch einbezahlten Pensionskassenkapitals als Rente ausbezahlt werden müssen. Für eine Pensionskasse impliziert dies, dass sie mit dem Kapital eine Rendite von rund 4,8% erwirtschaftet. Doch seit der Finanzkrise wirft Kapital nicht mehr so ohne Weiteres Zinsen ab: Es ist das Zeitalter der Tief- und Negativzinsen angebrochen. Als die Politik 2004 den Mindestumwandlungssatz auf eben jene 6,8% festlegte, konnte natürlich noch niemand ahnen, dass ein paar Jahre später eine Schweizer Bundesobligation negative Erträge liefern würde. Doch auch hier gilt: Mit den damals getroffenen Annahmen lässt sich heute nicht mehr viel anfangen, weder mit der Verzinsung noch der Lebenserwartung.

Das Ruder selbst in die Hand nehmen?

Bei der ersten und der zweiten Säule besteht also ziemlich unbestritten Handlungsbedarf. Es vermag nicht zu überraschen, dass angesichts der oben skizzierten Problemfelder der Zustand der Altersvorsorge eine der Hauptsorgen der Schweizer Bevölkerung ist. Es verbleibt jedoch neben AHV und beruflicher Vorsorge noch die dritte Säule: das private Sparen. Hier hat jede Schweizerin und jeder Schweizer das Ruder selbst in der Hand und kann sich individuell auf den Ruhestand vorbereiten. Nur muss man sich dessen bewusst sein. Dass dies nur begrenzt der Fall ist, führt Alessandro Sgro, Chefökonom der IHK, in seinem Artikel (S. 30–31) aus: Das Wissen um die finanziellen Möglichkeiten, gerade im Rahmen der Angebote zur Säule 3a, ist in der Schweizer Bevölkerung nach wie vor sehr begrenzt. Gerade wenn aber die Probleme der ersten und zweiten Säule nicht rechtzeitig gelöst werden, so müssten sich auch jüngere Menschen ziemlich schnell Gedanken zur privaten Vorsorge machen. Eine weitere Problematik hier: Normalerweise steigt das Erwerbseinkommen mit zunehmendem Alter an; während der Ausbildung oder in den ersten Berufsjahren dürfte es vielen schwerfallen, etwas auf die Seite zu legen, das sie ein paar Jahrzehnte später benötigen werden, geschweige denn den Höchstbetrag von aktuell CHF 6826 pro Jahr. Rückwirkend kann man diese ausgebliebenen Zahlungen, anders als bei der AHV und der Pensionskasse, jedoch nicht mehr nachholen.

Reformversuche stimmen wenig optimistisch

Der Anspruch einer umfassenden Problemanalyse der Schweizer Altersvorsorge wird mit den bis hierhin aufgeführten Punkten sicherlich nicht erfüllt. Ein Zwischenfazit lässt sich dennoch ziehen: Jede der drei Säulen der Altersvorsorge entwickelt sich nicht optimal, und das seit Jahren und Jahrzehnten. Der Politik vorzuwerfen, sie habe dies nicht erkannt, greift zu kurz: Die Politik konnte sich nicht über die richtigen Massnahmen einigen. Grössere Revisionen wurden angestrebt, scheiterten jedoch seit 1997 (AHV) und 2004 (berufliche Vorsorge) spätestens an der Urne, zuletzt 2017 die «Altersvorsorge 2020». Erneut arbeitet Bundesbern fieberhaft an neuen Reformvorschlägen und präsentierte solche unlängst mit der «AHV 21» und einer neuen BVG-Reform. Vielleicht ist es gerade das bisherige Scheitern, welches erklärt, dass diese Reformvorschläge nicht gerade überzeugend wirken – vielmehr wecken sie Zweifel, ob man überhaupt in der Lage sei, damit die Herausforderungen in der Altersvorsorge anzugehen. Wie Jan Riss in seinem Artikel aufzeigt (S. 12–13), ist die AHV 21 weit davon entfernt, die finanziellen Probleme der AHV ernsthaft anzugehen. Bis 2030 muss auch mit der Reform bereits wieder mit Verlusten im Umlageverfahren der ersten Säule gerechnet werden. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der BVG-Reform: Das Hauptproblem, nämlich dass durch den zu hohen Mindestumwandlungssatz die aktuellen Renten mit dem gesparten Kapital der aktiven Erwerbsbevölkerung querfinanziert werden, wird nicht gelöst. Vielmehr wird es noch zementiert, indem unbefristete und einkommens­unabhängige Zuschläge für alle vorgesehen sind. Dieses Fazit ziehen Dr. Roger Baumann und Silvan Gamper von c-alm (S. 15–16). Etwas Mut macht immerhin die Situation bei der dritten Säule: Das nationale Parlament hat die zunehmende Bedeutung zuletzt anerkannt und eine Motion angenommen, die nachträgliche Einzahlungen in die Säule 3a ermöglichen soll.

Wie weiter?

Die Schweizer Altersvorsorge ist auf allen Ebenen he­rausgefordert. Dennoch tat sich die Politik bislang schwer, substanzielle Besserungen herbeizuführen. Unangenehme Tatsachen müssen konsequent angegangen werden, statt dass man mit wenig nachhaltigen Reformen die Probleme vor sich herschiebt, bis sich die nächste Generation derer annehmen muss. Dabei sollte Folgendes beachtet werden:

  • AHV: Wie oben festgestellt, ist das Rentenalter 65 seit der Einführung der AHV 1948 unverändert geblieben, ja gar für Frauen reduziert worden. Dies widerspiegelt schon längst nicht mehr die Realität unserer Lebensdauer. Eine Erhöhung des Rentenalters bietet erwiesenermassen eine der effektivsten Massnahmen zur Verbesserung des Umlageergebnisses der AHV. Damit politische Stillstände in diesem Belang in Zukunft vermieden werden können, sollte das Rentenalter zudem an die Lebenserwartung gekoppelt werden. Wie der internationale Vergleich zeigt (vgl. Artikel S. 22–23), ist eine solche Korrektur in anderen westeuropäischen Staaten längst Tatsache. Weiterhin ist eine Flexibilisierung des Rentenalters, wie sie die AHV 21 vorsieht, zwar grundsätzlich begrüssenswert. Damit einher­gehen müssen jedoch Anreize zu einer längeren, an die stark gestiegene Lebenserwartung angepassten Lebensarbeitszeit.
  • Berufliche Vorsorge: Bei der beruflichen Vorsorge ist zwar die Korrektur des Mindestumwandlungssatzes, wie sie die aktuelle BVG-Reform vorsieht, ein Schritt in die richtige Richtung. Auch die Senkung des Koordinationsabzugs sowie die Glättung der Altersgutschriften sind begrüssenswert. Stossend ist jedoch die unbefristete und bedingungslose Natur der Rentenzuschläge. Dass Menschen mit geringerem Einkommen in der Übergangsgeneration eine zeitlich begrenzte Kompensation erstattet wird, ist einleuchtend; weniger jedoch die Tatsache, dass auch jeder Grossverdiener auf unbefristete Zeit davon profitieren soll.
  • Dritte Säule: Die private Vorsorge muss und wird durch die schwierige Lage der anderen beiden Säulen an Bedeutung gewinnen. Dies bedingt ein besseres Verständnis für diese Vorsorgeformen in der Bevölkerung sowie eine Flexibilisierung der Einzahlungsmodalitäten. Die im Parlament angenommene Motion zur nachträglichen Einzahlung ist hierbei ein Schritt in die richtige Richtung. Sie akzeptiert die Realität von Erwerbsunterbrüchen, etwa bei Weiterbildungen, und ermöglicht es, diese später zu kompensieren.

Die Zeit drängt

Das Schweizer Vorsorgesystem ist herausgefordert. Das Zeitfenster, um nachhaltig zu handeln, schliesst sich dabei zusehends. Lösungen stehen im Raum, die Politik geht ­jedoch die Altersvorsorge ohne Mut oder Vision an – dies illustrieren nicht zuletzt die aktuellen Reformbestrebungen. Es bleibt zu hoffen, dass sich diese Tatsache schnellstmöglich ändert – ansonsten wird die Schweizer Alters­vorsorge zur Hypothek für die jetzigen und kommenden Generationen.

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