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Die Schweizer Altersvorsorge unter Druck

Reformbedürftiges Vorsorgesystem Die Schweizer Altersvorsorge unter Druck

Markus Bänziger (Direktor IHK St. Gallen Appenzell) und Rebecca Kübler (Projektmitarbeiterin IHK)

9. Februar 2024 | Der demografische Wandel stellt die Altersvorsorge vor Herausforderungen: Die Lebenserwartung steigt, während die Geburtenrate auf tiefem Niveau stagniert. Das führt dazu, dass immer weniger Erwerbstätige die Renten für eine wachsende Anzahl von Rentenbeziehenden finanzieren müssen. Der Übertritt der Babyboomer-Jahrgänge vom Arbeitsmarkt in die Rentenphase wird die Situation weiter verschärfen. Ohne Anpassungen werden im Jahr 2040 zwei Erwerbstätige eine rentenbeziehende Person unterstützen müssen.

Die Altersvorsorge gehört zu den grössten Sorgen der Schweizer Bevölkerung. Im Jahr 2024 wird dieses Thema in der Politik besonders intensiv diskutiert, da gleich drei Vorlagen zur Altersvorsorge zur Abstimmung kommen. Dabei variieren die Lösungsansätze und Ursachenanalysen der einzelnen Vorlagen erheblich. Dies zeigt sich besonders deutlich im Kontrast zwischen der Einführung einer 13. AHV-Rente für alle Pensionierten und der Renteninitiative, die das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung koppeln will.

Die AHV ist ab 2031 defizitär

Am 25. September 2022 hat das Stimmvolk die Reform AHV 21 knapp angenommen, womit die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) zwar vorerst stabilisiert wurde, aber ohne weitere Massnahmen gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen bereits ab 2031 Defizite schreibt. Die Reform beschränkte sich darauf, die immer länger ausbezahlten Altersrenten für eine immer grössere Gruppe von Rentenbeziehern durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuerabzüge zu finanzieren. Soll das Dreisäulensystem aus umlagefinanzierter Altersvorsorge (erste Säule), kapitalgedeckter beruflicher Vorsorge (zweite Säule) und eigenverantwortlich finanzierter privater Vorsorge (dritte Säule) auch in Zukunft Bestand haben, müssen die Systeme der Zeit angepasst werden.

Die erste Säule, die AHV, wurde am 1. Januar 1948 eingeführt. Oberstes Ziel der AHV ist die Sicherung des Existenzminimums im Alter. Die Leistungsfähigkeit des umlagefinanzierten Systems hängt entscheidend davon ab, dass die Lohnsumme mindestens so stark steigt wie die Renten. Dies ist heute nicht mehr der Fall: Während 1948 noch 6,3 Erwerbstätige auf einen Rentner bzw. eine Rentnerin kamen, sind es heute mit 3,2 Erwerbstätigen nur noch halb so viele. Dieses Verhältnis wird weiter schwinden. Das hat zwei Gründe: Erstens gehen in den kommenden Jahren mehr Leute in Rente, als in den Arbeitsmarkt einsteigen. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in Pension, nur geburtenschwache Jahrgänge kommen nach. Zweitens ist die durchschnittliche Lebenserwartung seit der Einführung der AHV erheblich gestiegen.

Reformansätze zur Bewältigung der Herausforderungen

Die Systemmängel können mit unterschiedlichen Reformschritten angegangen werden:

Zur Sicherung der Finanzierung der ersten Säule erscheint eine Massnahme als besonders wirksam: die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Dies würde nicht nur die Einnahmen erhöhen, sondern auch die Ausgaben senken, da die Erwerbstätigen keine Rente beziehen. Gleichzeitig würde der steigenden Lebenserwartung und dem Faktor Rechnung getragen, dass die 65-Jährigen aufgrund verbesserter Lebensbedingungen und medizinischer Versorgung heute in einer besseren körperlichen und geistigen Verfassung sind als 1948 bei der Einführung der AHV.

Die aktuellen politischen Bestrebungen zur Veränderung der Altersvorsorgesysteme sind jedoch zu offensichtlich auf die Bedienung der Interessen der aktivsten und damit grössten Wählergruppe «Ü50» ausgerichtet. Während die Renteninitiative die wirtschaftliche Realität der Altersvorsorge erkennt, verursacht die Initiative für eine 13. AHV-Rente ein noch grösseres Defizit und würde unweigerlich dazu führen, dass mehr Einnahmen generiert werden müssten, sei es durch eine Erhöhung der AHV-Beiträge oder durch eine Querfinanzierung mit Steuermitteln.

Gezielter Ausbau statt Giesskannenlösung

In einer sozialen Marktwirtschaft spielen nicht nur finanzielle Kennzahlen eine Rolle. Gemäss einer von Pro Senectute in Auftrag gegebenen Studie leben 15,4 Prozent der über 65-Jährigen unter der Armutsgrenze. Etwa 2,7 Prozent, das sind rund 46'000 Rentnerinnen und Rentner, verfügen über kein Vermögen, um ihr geringes Einkommen auszugleichen, und sind somit ausweglos arm. Umgekehrt sind 84,6 Prozent der über 65-Jährigen finanziell ausreichend abgesichert und benötigen keine zusätzliche AHV-Monatsrente, um ihr Existenzminimum zu sichern. Die schweizerische Altersvorsorge erfüllt weitgehend ihren Zweck.

Obwohl Altersarmut in der Schweiz also nicht weit verbreitet ist und die Kaufkraft der AHV-Renten langfristig steigt, darf sie von der Politik nicht ignoriert werden. Eine 13. AHV-Rente nach dem Giesskannenprinzip für alle AHV-Bezügerinnen und -Bezüger ist aber eindeutig der falsche Ansatz. Vielmehr sollten solche Fälle durch eine effektive Weiterentwicklung der Ergänzungsleistungen gezielter angegangen werden, um die Effizienz des Altersvorsorgesystems zu verbessern.

Die Empfehlung der IHK

Die Fakten: Die Schweizer Bevölkerung altert. Ein Segen für den Einzelnen: Während der Anteil der Arbeitszeit an der Lebenszeit deutlich abnimmt, nimmt der Anteil der Genusszeit an der Lebenszeit zu. Eine Belastung für die Gesellschaft: Immer weniger Erwerbstätige müssen für immer mehr Rentenbeziehende aufkommen. Das Alter ist zudem nicht mehr das grösste Armutsrisiko; die Mehrheit der Pensionierten ist mindestens so gutgestellt wie die Erwerbstätigen. Auch der Gesundheitszustand der heute 65-Jährigen ist deutlich besser als in den 1940er-Jahren bei der Einführung der AHV und in den 1980er-Jahren bei der Einführung des BVG.

Die IHK St.Gallen-Appenzell setzt sich mit einer eigenen Kampagne für die Ablehnung der 13. AHV-Rente ein. Die Botschaft: Nein zur 13. AHV-Rente, weil wir gemeinsam für unsere Vorsorge verantwortlich sind!

Die Antworten:

  1. Die Auszahlung einer 13. AHV-Rente ab 2026 an eine wachsende Zahl von Rentenbeziehenden, unabhängig von deren Bedürftigkeit, verfehlt das Ziel der AHV und belastet die heute und künftig Erwerbstätigen. Altersarmut bekämpfen geht anders! Nein zur 13. AHV-Rente, weil wir gemeinsam für unsere Vorsorge verantwortlich sind!
  2. Das gesetzliche Renteneintrittsalter sollte an die Lebenserwartung angepasst werden. Das Verhältnis der Lebensarbeitszeit zur Lebensgenusszeit ist hoch. Mit 65 Jahren sind die Menschen gesünder denn je, und unsere Gesellschaft braucht dringend zusätzliche Fach- und Arbeitskräfte. Die skandinavischen Länder, aber auch Deutschland, die Niederlande oder Belgien machen es uns vor: 67 wird zum Standard. Deshalb: Ja zur Renteninitiative!

Dieser Artikel erschien am 28. Februar 2024 im Mitgliedermagazin IHKfacts zum Thema Vorsorge.

Gibt es Alternativen?

Die Reaktion des Nationalrates kam spät, aber deutlich: Mit 168 zu 0 Stimmen bei 18 Enthaltungen wurde ein Vorstoss gutgeheissen, der als Gegenvorschlag zur Initiative für eine 13. AHV-Rente verstanden werden kann. Die von GLP-Nationalrätin Melanie Mettler eingereichte und in der kleinen Kammer von Mitte-Ständerat Beat Riederer gleichlautend formulierte Motion verlangt ebenfalls eine Rentenerhöhung. Diese soll aber nur für jene Rentenbeziehenden gelten, die dringend auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Die Motion hält fest, dass die Erhöhung der AHV-Renten nicht zu einer Entlastung der Ergänzungsleistungen (EL) führen und dass die Erhöhung nicht mehr als 2% der jährlichen AHV-Ausgaben betragen darf. Selbst mit einem jährlichen Kostendach von 1 Milliarde Schweizer Franken, wie es der Nationalrat vorschlägt, wäre dies immer noch ein klarer Gegensatz zur 5-Milliarden-Giesskannenlösung der Gewerkschaften und auf jeden Fall zielgerichteter.