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Wie verändert ein Virus die offene Gesellschaft?

Leben mit Corona Wie verändert ein Virus die offene Gesellschaft?

Katja Gentinetta

Es kommt nicht auf das Virus, sondern auf uns selbst an: In Zeiten der Unwissenheit und eingeschränkter Freiheiten müssen wir dazulernen, aber auch unsere Skepsis bewahren und unsere Urteilsfähigkeit schärfen. Ausserdem birgt die Entlastung von Unnötigem neue Freiheiten, und gedanklich Abstand halten fördert die geistige Offenheit im gesellschaftlichen Diskurs.

Nach Möglichkeit zu Hause bleiben, Abstand halten, Hände waschen: Die Vorgaben des Bundesrats für den «Lockdown» waren, was unsere persönlichen Freiheiten betrifft, verhältnismässig mild. Dennoch fragen sich viele, ob – etwa mit Blick auf China und Ungarn, die die Gunst der Stunde nutzten und ihre Kontrolle über die Menschen verstärkten – auch hierzulande der Staat seine Macht ausbauen und unsere Freiheiten beschränken wird.

Es war der ursprüngliche Tischler und später geadelte Philosoph Sir Karl Popper, der den für unser Selbst-verständnis so wichtigen Begriff der «offenen Gesellschaft» geprägt hat. Er meinte damit eine Gesellschaft, die den offenen Diskurs pflegt und auf Individuen baut, die selber denken und eigenverantwortliche Entscheidungen treffen, eine Gesellschaft, die nicht grossen Ideologien folgt, sondern fähig und bereit ist, sich zu verändern, die schrittweise Verbesserungen unternimmt und kontinuierlich hinzulernt.

Laufen wir, die wir mit dem Virus leben müssen, Gefahr, diese Eigenschaften zu verlieren? Ich meine nicht – sofern wir die richtigen Schlüsse aus den gemachten Erfahrungen ziehen.
 

Entlastung und neue Höflichkeit

Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit beispielsweise hat ein rasches Umdenken und Umorganisieren erfordert. Für manche dürften diese Anpassungen nicht nur als Entbehrung, sondern auch als Entlastung empfunden worden sein. Deshalb wird, wer nicht mehr immer überall sein kann und muss, sich die Frage stellen, wie viel davon in Zukunft wirklich noch nötig ist. Mit Blick auf unsere Umwelt, aber auch auf unser persönliches Wohlbefinden, können wir uns durchaus überlegen, ob ein Teilverzicht auf die stete Mobilität, der aus freien Stücken erfolgt, nur einen Freiheitsentzug darstellt oder nicht auch das Potenzial hat, neue Freiheiten – innere und äussere – hinzuzugewinnen.

Auch dass Handschlag, Umarmung und Küsschen plötzlich ebenso passé waren wie enges Sitzen und ungeduldiges Drängeln, wird – je nach Situation und persönlicher Beziehung – nicht nur bedauerlich, sondern auch willkommen gewesen sein. Nur schon die Erfahrung, beim Einkaufen oder im öffentlichen Verkehr höflich den Vortritt zu lassen oder zu erhalten, zeigt, wie wohltuend es ist, einander Raum zu lassen, statt sich gegenseitig niederzurempeln. Diese «neue Höflichkeit», wie ich sie nennen möchte, kann uns auch geistig wieder offener machen für andere Menschen. Denn Abstand halten und Distanz wahren funktionieren nicht nur physisch, sondern ebenso verbal und gedanklich. Indem wir andere erst einmal gelten lassen, in ihrem Dasein, aber auch mit ihren Gedanken und Meinungen, erfahren und eröffnen wir Perspektiven, die wir im blinden Gehetze gar nicht zur Kenntnis nehmen konnten. Damit kann der offene Diskurs, den eine offene Gesellschaft braucht, nur gewinnen.
 

Mit Unwissenheit umgehen

Dass hingegen eine Tracing-App künftig über unsere mögliche Ansteckung wachen soll, macht uns zurecht skeptisch. Ob eine solche staatliche Applikation der Verfolgung von Bürgerinnen und Bürgern Tür und Tor öffnet, hängt jedoch nicht nur davon ab, wie sie technisch aufgesetzt wird (und hier spricht einiges für ein kluges Konzept), sondern vor allem davon, auf welche legitime Basis wir sie stellen. Dazu gehören Fragen der Befristung ihres Einsatzes, der Speicherung beziehungsweise Löschung der Daten und überhaupt ihres Ausnahmestatus. Das Parlament hat diese Fragen umsichtig geregelt; und die App bleibt freiwillig. Wie beim Corona-Ausnahmezustand und bei den damit einhergehenden Massnahmen war auch hier keine Willkür am Werk; im Gegenteil: Die Massnahmen wurden wohlüberlegt auf der Basis von Verfassung und Gesetz eingeleitet und auch wieder ausgesetzt.

Wo unsere offene Gesellschaft hingegen Schaden zu nehmen droht, ist im Umgang mit Unwissen. Als Wissensgesellschaft sind wir uns gewohnt, überall und jederzeit über Informationen zu verfügen. Nun aber mussten wir uns plötzlich mit rudimentären Fakten – der blossen Zahl von Toten – zufriedengeben, und jede weitere Information über das Virus vergrösserte nur unsere Unwissenheit. Das hat uns offensichtlich auf dem falschen Fuss erwischt. Dass selbst Epidemiologen kontinuierlich hinzulernen mussten, ja immer noch müssen, und sich nicht immer einig sind, ist für neue Phänomene eigentlich selbstverständlich. Dennoch dürfte dies mit dazu beitragen, dass – gleichsam am anderen Ende des Wissensspektrums –Verschwörungstheorien massiven Auftrieb erhielten. Die plötzlich aus dem Nichts – will heissen: aus den sozialen Medien – aufgetauchten Protestgruppen sind nur der sichtbare Teil dieser Tendenz.

Nicht zufällig stammt auch der Begriff der Verschwörungstheorie von Karl Popper. Ausgangspunkt seiner Forschung waren nämlich die Feinde der offenen Gesellschaft: autoritäre Regimes und kollektivistische Modelle. Die Vorstellung, wonach soziale Phänomene von Menschen und Gruppen bewusst in die Welt gesetzt würden, um sich einen Vorteil zu verschaffen, kann, so Popper, nur dann erfolgreich verbreitet werden, wenn willkürliche Machthaber ganz bewusst Rechtsunsicherheit befördern. In Zeiten bewusst verbreiteter Falschinformationen mit dem Zweck der Destabilisierung von Demokratien sind Verschwörungstheorien also kein Zufall. Ihnen ist nicht einfach beizukommen, da sich Unvernunft nur schwer mit Vernunft bekämpfen lässt. Dennoch müssen wir, wenn wir eine offene Gesellschaft bleiben wollen, an unserer Urteilsfähigkeit arbeiten.
 

Wir entscheiden

Ob es nun also um unsere Bewegungsfreiheit, Distanznahme oder Erklärungsansätze geht: Wir haben in der Corona-Krise einiges richtig gemacht. Wenn wir daraus lernen und unsere Erkenntnisse in weitere Anpassungen überführen, ohne uns entlang grosser Entwürfe neu zu erfinden, werden wir eine offene Gesellschaft bleiben. Denn eine wichtige Unterscheidung hat uns Popper noch mitgegeben: diejenige zwischen Tatsachen und Entscheidungen. Während Tatsachen – in diesem Fall das Virus – an sich keinen Sinn haben, sondern einfach sind, machen unsere Entscheidungen darüber, wie wir mit ihnen verfahren, den Unterschied. Und das heisst nichts anderes als: Es kommt nicht auf das Virus an, sondern auf uns.


Katja Gentinetta hat in Zürich und Paris Philosophie, Germanistik und Geschichte studiert. Die promovierte politische Philosophin ist Universitätsdozentin, Publizistin, Co-Moderatorin der NZZ Standpunkte und Wirtschaftskolumnistin der NZZ am Sonntag.

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