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Wie politische Eingriffe der Wirtschaft schaden

Der «Global Trade Alert» zeigt die protektionistischen Massnahmen der EU gegenüber der Schweiz auf Wie politische Eingriffe der Wirtschaft schaden

Prof. Simon J. Evenett, Professor für internationalen Hnadel und wirtschaftliche Entwicklung, Universität St.Gallen

Die Bilateralen Verträge regeln die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU – zumindest in der Theorie. In der Praxis zeigt sich: Angesichts der Wirtschaftskrise haben die EU-Staaten handelspolitische Massnahmen ergriffen, welche die Schweiz als kleine und offene Volkswirtschaft empfindlich treffen. Die Ostschweiz ist aufgrund ihrer geografischen Nähe und der damit verbundenen wirtschaftlichen Verflechtung mit EU-Mitgliedstaaten besonders anfällig.

Gegenwärtige Handelsabkommen sind zwangsläufig unvollständig und gewähren den involvierten Parteien einen Ermessensspielraum. Dies gilt auch für die komplexen bilateralen Abkommen, welche die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU regeln. Der Wert eines jeden für die nationalen Handelsinteressen kritischen Abkommens hängt davon ab, inwiefern andere unterzeichnende Parteien Richtlinien implementieren. In Zeiten akuter wirtschaftlicher Anspannung und Stagnation ist die Versuchung gross, inländische Interessen über ausländische zu stellen. Krisenzeiten stellen somit eine Form von «Stresstest» für Handelsabkommen dar.
Ein Blick auf die Handelsstatistik zeigt, dass seit 2012 eine Verlangsamung des Exportwachstums der Schweiz in die EU erkennbar ist. Ein Teil dieser Verlangsamung ist der wirtschaftlichen Stagnation der EU geschuldet. Allerdings kann der in den letzten Jahren entstandene Handelsbi­lanzüberschuss seitens der EU nicht alleine durch makroökonomische Faktoren erklärt werden. Möglicherweise haben auch die veränderten politischen Rahmenbedingungen eine zentrale Rolle gespielt. In der hier vorgestellten Studie werden deshalb die politischen Eingriffe – sowohl liberalisierende wie auch diskriminierende – der EU-Kommission und der Regierungen der Mitgliedsstaaten zusammengefasst und die möglichen Auswirkungen diskutiert.

Politische Eingriffe der EU

Regierungen innerhalb der EU haben, wie andernorts auch, auf die globale Wirtschaftskrise energisch mit makroökonomischen Impulsen reagiert. Diese haben sie oft mit gezielten Hilfsmassnahmen für spezifische Wirtschaftssektoren oder kriselnde Firmen verbunden. Während viele dieser Massnahmen im Lichte der Arbeitsplatzsicherung präsentiert wurden, ging es bei einigen darum, inländische Firmen auf Kosten ausländischer Konkurrenz – einschliesslich Schweizer Firmen – zu bevorzugen. Solche Massnahmen erscheinen auf den ersten Blick als wett­bewerbsneutral; tatsächlich enthalten sie aber im Klein­gedruckten diskriminierende Bedingungen gegenüber ausländischen Firmen. So werden Unternehmen in einzelnen EU-Staaten beispielsweise verpflichtet, einen bestimmten Anteil der Wertschöpfung im Inland zu erbringen.
Da die Mitgliedstaaten keine traditionellen Grenzhindernisse erlassen durften, wurden anderweitige Eingriffe – vor allem Subventionen gegenüber defizitären Firmen – bevorzugt. Insbesondere die drei grössten Volkswirtschaften der EU, Deutschland, Grossbritannien und Frankreich, verwässerten nach dem Ausbruch der Krise die strengen EU-Vorschriften zu Hilfsprogrammen.
Verdienstvollerweise sammelte die EU-Kommission eine substanzielle Anzahl an Daten zu protektionistischen Entwicklungen, welche unter anderem in die Datenbank «Global Trade Alert» (GTA) eingespiesen wurden (siehe Kasten). Anhand der Informationen wurde in der hier vorgestellten Studie untersucht, inwiefern bei der EU-Kommission und bei den nationalen Regierungen eine Neigung zu handelsverzerrenden Massnahmen feststellbar ist, welche die schweizerischen Handelsinteressen wahrscheinlich oder fast sicherlich beeinträchtigen.

Schädliche Massnahmen

Seit November 2008 hat der Global Trade Alert fast 1100 Massnahmen ausländischer Regierungen dokumentiert, welche schweizerische Handelsinteressen beeinträchtigen. Ihnen gegenüber stehen rund 600 für schweizerische Handelsinteressen begünstigende Massnahmen ausländischer Regierungen. Von den für die Schweiz schädlichen Massnahmen sind beinahe 900 immer noch in Kraft, was darauf hinweist, dass noch ein langer Weg zu gehen ist, um die Massnahmen zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise aufzuheben.
Betrachtet man ausschliesslich die EU-Daten, dann haben die EU-Mitgliedstaaten und die EU-Kommission seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise im November 2008 aus Schweizer Sicht insgesamt 200 schädliche und 37 begünstigende Massnahmen getroffen (siehe Tabelle). Im Oktober 2016 waren noch 151 schädliche und 23 begünstigende Massnahmen in Kraft.
Bei den schädlichen EU-Massnahmen ist zwar nur eine geringe Neigung zu typischen Grenzhindernissen ersichtlich, aber in zahlreichen Fällen haben EU-Mitgliedstaaten inländische Firmen vor drohendem Konkurs gerettet. Wir konnten mit relevanten Informationen über die betroffenen Firmen und deren Produkte aufzeigen, dass diese Rettungsaktionen in 141 Fällen Firmen betrafen, welche direkt mit einem Schweizer Exportunternehmen konkurrieren. Es gibt aufgrund der noch immer hohen Anzahl an aktiven Staatshilfen allen Grund anzunehmen, dass betroffene Schweizer Exporteure bis heute Preissenkungen, tiefere Gewinnmargen auf Exportprodukten und Kapitalerträgen in Kauf nehmen müssen.
Zusätzlich kommen Jahr für Jahr neue schädliche EU-Massnahmen hinzu (siehe Abbildungen). Ein gutes Beispiel für eine erst kürzlich von der EU-Kommission genehmigte Staatshilfe ist die im Juni 2016 veranlasste Investitionshilfe im Rahmen von 33 Mio. Euro für den deutschen Karton- und Papierhersteller Hamburger Rieger GmbH. Die Firma investiert gesamthaft gut 363 Mio. Euro in den Fabrikpark in Spremberg (Brandenburg). Die mit der Staatshilfe beabsichtigte regionale «Entwicklungshilfe» bedeutet für die direkten Wettbewerber eine Verzerrung eines ohnehin schon umkämpften Marktes. Ein möglicherweise direkt betroffenes Unternehmen ist die in der Ostschweiz beheimatete Model Holding AG mit Sitz in Weinfelden, welche dieselben Verpackungslösungen in denselben Märkten anbietet. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie schädliche EU-Massnahmen Ostschweizer Unternehmungen direkt beeinträchtigen können.
Die GTA-Datenbank dokumentiert auch die Massnahmen der Schweiz, welche die Handelsinteressen der EU beeinträchtigen. Seit November 2008 hat die Schweiz in 13 Fällen höchst wahrscheinlich EU-Handelsinteressen beeinträchtigt, insbesondere bei landwirtschaftlichen Anliegen und Fragen zur Wirtschaftsmigration. Im Vergleich mit den schädlichen Massnahmen der EU nehmen sich die Schritte der Schweiz jedoch bescheiden aus.

Schweiz als kleine und offene Volkswirtschaft stark betroffen

Wie wirken sich diese Beobachtungen auf die Effektivität der Wirtschaftsabkommen zwischen der Schweiz und der EU aus? Haben die Abkommen den «Stresstest» der Wirtschaftskrise überstanden?
Dass die bilateralen Abkommen ihre Wirkung durchwegs verfehlt haben, kann aufgrund der Beobachtungen natürlich nicht behauptet werden. Dennoch gibt es Vermutungen, die in diese Richtung zeigen: Erstens widerspricht die Behauptung, die bilateralen Abkommen hätten die schweizerischen Handelsinteressen während der Wirtschaftskrise vor dem EU-Protektionismus geschützt, eindeutig den dokumentierten Daten. Dies soll nicht implizieren, dass die EU-Massnahmen gezielt gegen die Schweiz gerichtet wurden – vielmehr waren die schweizerischen Interessen als Folge von wirtschaftspolitischen Eingriffen seitens der EU betroffen. So zeigt die vorliegende Studie, dass Nachbarstaaten, wie beispielsweise Deutschland, zahlreiche Unternehmungen subventioniert haben, die direkt mit Ostschweizer Unternehmungen konkurrieren.
Zweitens ist bemerkenswert, dass die meisten Handelsverzerrungen aus Subventionen und Staatshilfen resultierten. Denn bis anhin war die EU stolz auf ihren Ruf als Hardliner bezüglich Staatshilfen. Die Ergebnisse dieser Arbeit – und diejenigen anderer Wissenschaftler – bringen Risse in dieses Bild: Gleich nach Beginn der Wirtschaftskrise hat die EU die Regeln zur Staatshilfe aufgehoben. Erst in jüngster Zeit wurde versucht, diese wieder aufzurichten.
Der Umstand, dass ein solches Regime in einer akuten wirtschaftlichen Anspannung überhaupt aufgehoben werden konnte, sagt viel über den Wert der Handelsregeln aus. In der Krise waren es die Regeln – nicht die Regierungen –, die sich beugten.
Als eine kleine und offene Volkswirtschaft ist die Schweiz auf den Zugang zu ausländischen Märkten angewiesen, und mit ihrer liberalen Handelspolitik trägt sie zum globalen Wirtschaftswachstum bei. Allerdings zeigen die Forschungsergebnisse, dass der Schutz von Freizügigkeitsabkommen letztlich von den Interessen der Unterzeichnenden in schwierigen wirtschaftlichen Situationen abhängt.

Global Trade Alert

Der von der Universität St.Gallen betriebene «Global Trade Alert» (GTA) sammelt Daten bezüglich angekündigten und implementierten wirtschaftspolitischen Massnahmen des Staates seit dem ersten G-20-Krisengipfel im November 2008. Die unabhängige Organisation dokumentiert (fast) alle Massnahmen, welche die relative Behandlung inländischer Wirtschaftsinteressen verglichen mit ausländischen beeinflusst. Die Datenbank ist zurzeit zweieinhalb Mal so gross wie die vergleichbare Sammlung der Welthandelsorganisation (WTO), welche sich auf eine begrenzte Anzahl spezifischer handelspolitischer Massnahmen während der Wirtschaftskrise konzentriert. Koordiniert wird der GTA von Simon J. Evenett.

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