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Wenn an der Grenze plötzlich nichts mehr geht

Exporteure berichten Wenn an der Grenze plötzlich nichts mehr geht

Jan Riss, Wissenschaftlicher Mitarbeiter IHK St.Gallen-Appenzell & Jérôme Müggler, Direktor IHK Thurgau

Unterbrochene Lieferketten, Lieferengpässe, für den Personenverkehr geschlossene Grenzen: Exportorientierte Ostschweizer Unternehmen traf die Pandemie hart. Drei IHK-Mitglieder geben Einblicke in die Herausforderungen in ihrem Exportgeschäft.

Andrea Berlinger Schwyter, VRP und Inhaberin Berlinger & CO. AG, sagt: «Grösste Herausforderungen sahen wir bereits während des Lockdowns in Wuhan auf uns zukommen. Landesweite Produktionsverbote führten dazu, dass plötzlich bestimmte Komponenten nicht mehr verfügbar waren. Als europäische und weitere asiatische Länder im März grossflächig ihre Grenzen schlossen, spitzte sich die Lage weiter zu: Wie kommt die produzierte Ware in die Schweiz und von hier wieder in den Export, wenn Flughäfen schliessen und viele Airlines am Boden bleiben? Lösungen für alle täglich neu auftretenden Probleme waren mit immensem Aufwand verbunden. Zum Teil führten diese zu starken Preiserhöhungen und bis zu zehnfach höheren Frachtkosten.

Als Konsequenz änderten wir unsere Lagerpolitik. Die Elektronikbranche ist generell sehr statisch und für sehr lange Lieferfristen bekannt. Zurzeit verlängern sich diese noch weiter. Fast alle Lieferanten verlangen verpflichtende Bestellungen über mindestens ein Jahr. Für die Endkunden ist eine so langfristige Planung aber kaum realistisch. Zusätzliche Sicherheitslager zu schaffen, ist allerdings liquiditätswirksam. Und nach wie vor bleibt ungewiss: Wie rasch erhöhen sich die Transportkapazitäten und sinken die Preise wieder?»

*Die Berlinger & Co. AG aus Ganterschwil produziert Temperaturüberwachungssysteme und Doping-Kontroll-Equipment.

 

Dr. Mirko Lehmann, CEO IST AG, sagt: «Wir positionieren uns im Markt erfolgreich mit sehr kundenspezifischen Sensoren, fast alle davon werden exportiert. Diese Sensoren werden unter anderem durch Kundenbesuche bei uns oder beim Kunden besprochen und beauftragt. Als die Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie bekannt wurden, verstärkten wir zwar rasch unseren digitalen Auftritt – den persönlichen Kundenkontakt kann dieser aber nicht ersetzen. Auftragsrückgänge sind die Folge. Auch unser Personal rekrutieren wir grenzüberschreitend: Aufgrund unseres hohen Spezialisierungsgrads stellen wir regelmässig Mitarbeiter aus dem Ausland ein. Selbst hoch-qualifizierte ausländische Mitarbeiter, ausgestattet mit einem Vertrag aus Zeiten vor Corona, durften für den Stellenantritt plötzlich nicht mehr über die Grenze. Glücklicherweise fanden wir in Zusammenarbeit mit dem St.Galler Volkswirtschaftsdirektor Bruno Damann konstruktive Lösungen. Der Personenverkehr ist für uns auch wesentlich für das Vertrauen in wirtschaftliche Abläufe.»

*Die Firma IST AG aus Ebnat-Kappel stellt physikalische, chemische und biologische Sensoren her.

 

Dr. Oliver Vietze, CEO Baumer Group, sagt: «Herausfordernd in der Krise war, dass wir Kunden nicht mehr vor Ort besuchen konnten und dadurch viele Projekte de facto stillstanden – auch wenn einiges über Skype & Co weiterlief. Die Hygienemassnahmen, die Mehrschichtsysteme, das Team-Splitting in der Produktion und Home Office für weit über 70 Prozent der Mitarbeitenden im Büro konnten wir dank einer modernen IT-Umgebung und digitalen Prozessen problemlos und sehr schnell umsetzen.

Wir stellten zudem fest, dass unsere Organisation in der Lage ist, schnell zu reagieren und dass alle bereit sind, die Extra-Meile zu gehen, mitzudenken und sich den Umständen anzupassen. Diese Fähigkeit müssen wir beibehalten. Wir wollen künftig weniger Zeit in die ‹Planung des Unplanbaren› investieren, sondern noch mehr in unsere Agilität, in Innovation und in die Digitalisierung von nicht direkt wertschöpfender Tätigkeiten. Ein Schlüsselelement ist die ‹Virtualisierung› der Teams und digitale Kollaboration über Standorte und Ländergrenzen hinweg. Die unerfreuliche Situation mit Corona hat uns einen richtigen ‹Boost› gegeben.»

*Die Baumer Group aus Frauenfeld stellt Sensoren, Drehgeber, Messinstrumente und Komponenten für die automatisierte Bildverarbeitung her.

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Aussenhandel bricht ein

Das Coronavirus lässt im ersten Quartal 2020 das Bruttoinlandprodukt um 2,6 Prozent schrumpfen. Der Aussenhandel leistete damals per Saldo noch einen positiven Beitrag – insbesondere aufgrund gestiegener Warenexporte im Pharmabereich und im Transithandel: Die Warenexporte der chemischen und pharmazeutischen Erzeugnisse wuchsen sehr dynamisch und erreichten einen neuen Rekordwert. Konjunktursensitive Branchen wie Maschinen und Metalle oder Präzisionsinstrumente und Uhren verzeichneten einen deutlichen Rückgang. Das verarbeitende Gewerbe erlebte insgesamt den stärksten Einbruch seit dem Frankenschock 2015.

Der Einfluss der Corona-Pandemie machte sich erst ab Mitte März so richtig bemerkbar – betraf das erste Quartal also nur begrenzt. Die verschlechterte globale Wirtschaftslage wirkte sich sodann auf wichtige Handelspartner aus und zeigte sich bei vielen Gütern im Aussenhandel deutlich. Die Rückgänge akzentuierten sich in der Folge stark: Exporte und Importe wiesen im April ein markantes Minus auf. Die Exporte von Maschinen, Apparaten und Elektronikgeräten sowie von Metallen gingen im März und April um über 20 Prozent zurück. Das sind die höchsten Rückgänge seit Jahrzehnten.

Die stark exportorientierte Ostschweizer Wirtschaft traf es im April unterschiedlich. Während die Kantone St.Gallen und Appenzell Ausserrhoden im Schweizer Durchschnitt lagen, ist der Einbruch in Appenzell Innerhoden und im Thurgau deutlich höher. Vom Rückgang am stärksten betroffen sind Branchen wie Maschinen, Apparate und Elektronik, Fahrzeuge sowie die Textilindustrie.

Die Dienstleistungsexporte gingen schweizweit markant zurück. Negativ trug insbesondere der Fremdenverkehr bei – mit dem stärksten jemals verzeichneten Rückgang. Wachstum gab es hingegen bei den Exporten von Finanzdienstleistungen sowie bei den Forschungs- und Entwicklungsdiensten. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Dienstleistungsimporten.

Alessandro Sgro, Chefökonom IHK St.Gallen-Appenzell

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