Sie sind hier

Weichenstellung für Arbeits- und Lebensraum

Vereinbarkeit von Familie und Beruf Weichenstellung für Arbeits- und Lebensraum

Markus Bänziger, IHK-Direktor

Der gesellschaftliche Wandel fordert uns aus volkswirtschaftlicher und betrieblicher Sicht. Die alternde Gesellschaft ist eine Herausforderung für das Sozial- und Gesundheitswesen und der Fachkräftemangel verschärft sich. Aufhalten oder umkehren lässt sich die Entwicklung nicht. Doch gerade für die Kernregion Ostschweiz birgt der Wandel der Gesellschaft Chancen: Gelingt es, ihren Bedürfnissen mit aktiver Zukunftsgestaltung gerecht zu werden, hilft dies, die Ostschweiz zum bevorzugten Arbeits- und Lebensraum im Reigen der Regionen zu formen.

Eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf leistet einen wichtigen Beitrag dazu. Dabei gilt es, die Verantwortung nicht undifferenziert dem Staat zuzuweisen. Politik und Gesellschaft geben die Rahmenbedingungen vor – aber diese sind heute zu eng. Aus gesellschaftlicher Sicht muss ein vitales Interesse bestehen, das Arbeitskräftepotenzial besser zu nutzen. Politische Massnahmen für eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind deshalb nötig. Aber nicht nur: Eigenverantwortung und Eigeninitiative von Unternehmen und Erwerbstätigen sind mindestens so zentral. Ein sachlicher Blick auf das Nutzen-Kosten-Verhältnis der staatlichen Leistungserbringung und die damit verbundenen geeigneten Finanzierungsmodelle ist unabdingbar. Eine Schlüsselrolle zur Bewältigung veränderter gesellschaftlicher Bedingungen kommt dabei der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu: Eine Elternschaft hat immer noch massgeblich sinkende Arbeitspensen zur Folge. Selbstverständlich sollen sich junge Eltern Zeit für ihre Kinder nehmen. Die stark rückläufige Teilnahme am Arbeitsmarkt lässt sich jedoch genauso mit mangelnden Massnahmen und Fehlanreizen erklären, die es Eltern erschweren, nebst den Betreuungspflichten noch einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Daraus entsteht nicht zuletzt auch ein grosses ungenutztes Arbeitskräftepotenzial.

Soll dieses Potenzial genutzt werden, gilt es, familienfreundliche Rahmenbedingungen auf allen Ebenen konsequent zu verbessern. Dabei sind wir alle gefordert: Gesellschaft, Politik, Unternehmen und Arbeitnehmende.

Politische Massnahmen

Auch die Schweizer Politik hat die Problematik erkannt und investiert in Massnahmen, die Arbeitnehmenden eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf bieten sollen. So wurde beispielsweise in den letzten Jahren das Angebot an Betreuungsplätzen v. a. in den Städten deutlich erhöht. Dennoch gibt es nach wie vor Handlungsbedarf. Optimierungspotential besteht bei den steuer- und arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen sowie konkreter bei der Ausgestaltung des Betreuungsangebots und des familienbezogenen Urlaubs.

  • Heiratsstrafe: Nach wie vor werden Ehepaare mit zwei Einkommen bei der Erhebung der direkten Bundessteuer benachteiligt. Besonders ausgeprägt ist diese Strafe, wenn das Einkommen zwischen den beiden Partnern gleichmässig verteilt ist. Damit die Besteuerung nicht einen Negativanreiz für ein zweites Einkommen darstellt, muss die aktuelle Situation angepasst werden. Mit der Individualbesteuerung liegt die Lösung auf dem Tisch: Ziel muss die Schaffung eines effizienten, erwerbsbeteiligungssteigernden und zivilstands-neutralen Steuersystems sein.
  • Arbeitsgesetzgebung: Diese stammt im Wesentlichen aus dem Jahr 1964 und ist noch stark auf die damalige Wirtschaftsstruktur und Rollenbilder ausgerichtet. In einer digitalen und dienstleistungsdominierten Arbeitswelt sind viele Tätigkeiten weder zeit- noch ortsgebunden. Durch die wenig aktuellen Vorschriften wird aber beispielsweise eine werktätige Mutter zur Gesetzesbrecherin, wenn sie um 16 Uhr die Kinder aus der Kita holt, um 21 Uhr nochmals E-Mails beantwortet und am nächsten Morgen wieder um 8 Uhr einen Kundentermin wahrnimmt. Eine Anpassung des Gesetzes an die moderne Arbeitswelt ist gefordert: Mögliche Ansätze bieten die Einführung einer Jahres- statt Wochenhöchstarbeitszeit sowie flexiblere Regeln für Pausen, Tages-, Nacht- und Sonntagsarbeitszeit.
  • Betreuungsangebot: Insbesondere in der Ostschweiz herrscht ein Mangel an Kinderbetreuungsplätzen. Zudem ist das Angebot oftmals so teuer, dass sich ein zweites Einkommen bei gleichzeitiger Beanspruchung einer externen Betreuung gar nicht mehr lohnt. Zum Mangel und den hohen Kosten trägt die starke Regulierung von Betreuungsplätzen bei: Die Kinderbetreuung ist verbürokratisiert, unflexibel und teuer. Gerade private und semi-institutionelle Initiativen haben dabei einen schweren Stand. Eine zielgerichtete Deregulierung muss Basis für einen bedarfsgerechten Ausbau des Betreuungsangebots bilden.
  • Schulergänzende Angebote: Momentan gelten je nach Kanton, Schulgemeinde und -stufe unterschiedliche Stundenpläne, was insbesondere für Eltern mit mehreren Kindern Unsicherheit generiert und einen hohen Koordinationsaufwand nach sich zieht. Das Ziel sollte vielmehr sein, dass Schulen klar definierte und verlässliche «Öffnungszeiten» haben. Dazu bieten sich zwei Massnahmen an: zum einen ein gezielter Ausbau der Tagesstrukturen, zum anderen das Einführen eines Taktstundenplans. Dieser gewährleistet harmonisierte Unterrichts- und Betreuungszeiten über die gesamte Kernregion Ostschweiz auf allen Volksschulstufen sieben Stunden täglich während derselben Zeitfenster. Erwerbstätige Erziehungsberechtigte können sich auf eine vollständige Kinderobhut aller Altersgruppen verlassen und so eine langfristig ausgerichtete Erwerbstätigkeit annehmen. Unternehmen in der Kernregion Ostschweiz können für die grosse Mehrzahl der Angestellten mit dem Privatleben kompatible Standardarbeitsmodelle anbieten.
  • Elternzeit: Nicht zuletzt schafft auch das kürzlich vom Parlament beschlossene Modell von 14 Wochen Mutterschafts- und neu zwei Wochen Vaterschaftsurlaub Chancenungleichheiten am Arbeitsmarkt. Gefragt wäre hier eine Regelung, die eine individuell gestaltbare, gleichberechtigte Organisation der Familienarbeit zulässt. Zielführender wäre daher eine Elternzeit, die es Eltern freistellt, wie sie Erwerbstätigkeit und familiäre Pflichten aufteilen.

Betriebliche Massnahmen

Für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf legen politische Massnahmen jedoch nur das Fundament; tragfähige, massgeschneiderte Lösungen müssen Unternehmen zusammen mit Mitarbeitenden entwickeln. Im sich verschärfenden Wettbewerb um Talente und Fachkräfte wird die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein entscheidendes Attraktivitätsmerkmal – zumal sich Investitionen in eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch rein wirtschaftlich auszahlen: Eine Schweizer Studie* errechnet gar einen Return on Investment von acht Prozent auf entsprechende Massnahmen.

Die Ansatzpunkte sind zahlreich, beispielsweise bei der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse. Teilzeitarbeit und eine individuellere Einteilung der Arbeitszeit erhöhen den Spielraum für familiäre Pflichten. Auch die Möglichkeit, zu Hause zu arbeiten, bietet eine bessere Vereinbarkeit von beruflichen und familiären Verpflichtungen. Da in ­einer digitalen Arbeitswelt viele Tätigkeiten nicht zwingend Präsenz am Arbeitsort verlangen, bieten flexible Arbeitsmodelle wichtige und kostengünstige Ansätze, um Mitarbeitenden mit familiären Pflichten Flexibilität zu ermöglichen.

Eine Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse muss mit einer Anpassung von Karrieremodellen einhergehen. Wenn Mitarbeitende mit familiären Pflichten dem Unternehmen erhalten bleiben sollen, ist es von grosser Bedeutung, dass auch sie Weiterentwicklungschancen haben. Dass eine Karriere abseits der klassischen Vollzeitstelle mit Block­zeiten möglich ist, belegt die betriebliche Praxis: In der Schweiz arbeitet heute jede fünfte Führungskraft Teilzeit. Zusätzlich zu den staatlichen Massnahmen bei Kinder­betreuung und Elternzeit bieten sich auch in Unternehmen Handlungsoptionen an. Die Gewährung eines familienbezogenen Urlaubs entlastet nicht nur die Mit­arbeitenden. Sie kann auch die Planungssicherheit für Unternehmen erhöhen. Bereits heute kennen viele Unternehmen Lösungen, die über das gesetzliche Minimum hinausgehen.

Um aber überhaupt an den Arbeitsplatz zurückkehren zu können, muss zuerst die Kinderbetreuung geregelt sein. Durch eine beratende, vermittelnde oder gar finanzielle Unterstützung bei der Suche nach einer externen Kinderbetreuung wird sichergestellt, dass Mitarbeitende tendenziell eher an den Arbeitsplatz zurückkehren – und dies mit höheren Pensen.

Schliesslich sollte es aus gutem Grund das Ziel von Unternehmen sein, Mitarbeitende so zu unterstützen, dass sie nach dem Elternwerden dem Betrieb erhalten bleiben. Denn solche Mitarbeitende ersetzen zu müssen kann äusserst teuer werden: Das Neubesetzen einer Stelle ist mit Kosten für den Einstellungsprozess, das Einarbeiten und Arbeitsausfällen in der Übergangsphase verbunden. Zudem entsteht oft ein erheblicher Verlust von Know-how. Mit dem sich verschärfenden Fachkräftemangel dürften sich Personalwiederbeschaffungskosten noch erhöhen.

Es gibt zahlreiche Massnahmen, welche die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärken. Im Zentrum müssen individuelle Lösungsansätze stehen, welche die Bedürfnisse von Unternehmen und Mitarbeitenden gleichermassen berücksichtigen. Dies gelingt nur, wenn eine familienfreundliche Unternehmenskultur Basis für sämtliche Massnahmen zur bessere Vereinbarkeit bildet.

Chance für die Kernregion Ostschweiz

Die demografische Entwicklung in Kombination mit dem gesellschaftlichen Wandel ist eine Herausforderung – aber vor allem eine Chance. An uns liegt es, als Kernregion Ostschweiz die mit diesen Veränderungen verbundenen Chancen zu nutzen und die Zukunft aktiv zu gestalten. Dazu gehören familienfreundliche Rahmenbedingungen. Diese stärken unsere Region als bevorzugten Arbeits- und Lebensraum.

Gefordert sind wir alle: Gesellschaft, Unternehmen, Politik und Arbeitnehmende. Gemeinsam können wir viel bewegen – ganz im Sinne der IHK-Zukunftsagenda: Als soft­urbaner Raum verbindet die Kernregion Ostschweiz eine urbane Haltung von Weltoffenheit, Zukunftsglauben und Veränderungsbereitschaft mit einem Lebensraum, der mehr Vielfalt zulässt als dichte städtische Zentren.

Wappnen wir uns für die Zukunft und den Wettbewerb um die besten Köpfe!

 

* Vgl. Prognos, 2005: Betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse familienfreundlicher Unternehmenspolitik.

Diese Beiträge könnten
Sie ebenfalls interessieren: