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Was uns der Sonderweg Schwedens lehrt

Blick nach Norden Was uns der Sonderweg Schwedens lehrt

Jan Riss, Wissenschaftlicher Mitarbeiter IHK St.Gallen-Appenzell 

Schweden setzt bei der Bewältigung der Corona-Pandemie auf Eigenverantwortung. Die bisherigen Erfolge mit diesem Sonderweg sind bescheiden. Doch an den zugrundeliegenden Prämissen können wir uns orientieren: Der Staat ist keine Vollkaskoversicherung, gefragt ist unternehmerischer Tatendrang.

«In Schweden funktioniert es ja auch ohne Einschränkungen.» Sätze wie diesen hätte man in den vergangenen drei Monaten in jeder arrivierten Stammtischrunde zu hören bekommen. Hätte – denn auch die Stammtische als selbstdeklariertes Stimmungsbild der Nation waren von den behördlich angeordneten Restaurantschliessungen betroffen. Stattdessen verlagerten sich die Diskussionen über den Sonderweg Schwedens auf die Strasse, in die sozialen Medien. Die Ausgangslage ist bekannt: Im Gegensatz zur Mehrheit ihrer europäischen Pendants verzichtete die Regierung Schwedens auf rigorose Einschränkungen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens. Grundschulen, Geschäfte und Restaurants blieben offen, Zusammenkünfte und Veranstaltungen von mehr als fünfzig Personen waren stets erlaubt, Industriebetriebe blieben von behördlichen Schliessungen verschont. Die einen verurteilen diese Strategie als fahrlässiges Experiment an der Bevölkerung, andere erklären Schweden zum Sehnsuchtsort, wo noch die Vernunft walte.
 

Selbstverordnete Einschränkungen

Fakt ist: Die schwedische Regierung reagierte im internationalen Vergleich nachweislich wenig einschneidend. Dies zeigt der Government Response Stringency Index der Universität Oxford (siehe Grafik). Der Index bemisst, wie streng Regierungen Massnahmen gegen das Coronavirus erlassen. Europaweit handelte einzig das autokratisch regierte Weissrussland, wo die Existenz des Coronavirus faktisch negiert wird, weniger streng. In der Schweiz und insbesondere in Italien waren die behördlichen Massnahmen demgegenüber in den Monaten März und April weitaus einschneidender.

Das Bild der gänzlichen Freiheit der Schwedinnen und Schweden ist indes verfehlt. Auch die schwedische Regierung verhängte harte Gesetze, um die Pandemie einzudämmen. Vor allem aber schränkten die Menschen ihre Kontakte und ihre Mobilität freiwillig massiv ein. Die Eigenverantwortung geniesst im nordeuropäischen Land einen äusserst hohen Stellenwert. Gleichzeitig darf die Freiheit Einzelner das Wohlergehen der Mitmenschen nicht gefährden. Dieses Grundverständnis ist tief verankert. Hinzu kam die Sorge um die eigene Gesundheit. Entsprechend bewirkten alleine schon die – durchaus rigorosen – Verhaltensempfehlungen der Regierung in mehrheitliches Erliegen des öffentlichen Lebens. Handydaten basierte Mobilitätsberichte von Google offenbaren, dass sowohl die Präsenz am Arbeitsplatz wie auch die Personenfrequenz an Bahnhöfen und Haltestellen ähnlich einbrachen wie in Schwedens Nachbarländern.
 

Andere Güterabwägung – doppelte Mortalitätsrate

Gleichwohl ist es nicht gelungen, die Pandemie rasch einzudämmen. Die Mortalitätsrate, also die Anzahl der Todesfälle im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, ist mehr als doppelt so hoch wie in der Schweiz. 
Pro 100 000 Einwohner zählte Schweden Anfang Juni 45 Tote, die Schweiz deren 19. Und die Todeszahlen steigen stetig an: Während die Reproduktionszahl in der Schweiz bereits am 22. März unter den kritischen Schwellenwert von eins gefallen und deutlich darunter verblieben ist, lag sie in Schweden bis Ende Mai konstant bei ungefähr eins.

Die schwedische Strategie war derweil bewusst so gewählt. Weltweit mussten Regierungen eine Güterabwägung treffen: der gesundheitliche Schutz der Bevölkerung auf der einen, die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen auf der anderen Seite. Die schwedische Regierung gewichtete letztere vergleichsweise stark. Für eine Gegenüberstellung zur Schweizer Strategie drängt sich umso mehr eine gesamtheitliche Betrachtungsweise auf.
 

Ähnliche wirtschaftliche Einbussen

Eine solche Betrachtungsweise nahm die Swiss National Covid-19 Science Task Force, das nationale wissenschaftliche Beratungsgremium des Bundes, ein: In einem Beratungspapier verglich sie Ende Mai die beobachtbaren sowie prognostizierten epidemischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der beiden Länder miteinander. Die Erkenntnis: Während Schweden wesentlich höhere, nach wie vor steigende Infektions- und Mortalitätsraten aufweist, dürfte der wirtschaftliche Schaden gemessen am BIP und der Arbeitslosenquote in etwa ähnlich ausfallen wie hierzulande. So gehen die offiziellen Konjunkturprognosen beider Länder von einem nominalen Wirtschaftseinbruch im Jahr 2020 von 7,0 Prozent in Schweden respektive 7,2 Prozent in der Schweiz aus. Auch die Aufholeffekte im kommenden Jahr werden mit einem nominalen BIP-Wachstum von 4,8 Prozent in Schweden und 5,9 Prozent in der Schweiz ähnlich prognostiziert. Zu vergleichbaren Ergebnissen gelangt auch der Internationale Währungsfonds (IWF).

Zudem rechnen das staatliche schwedische Institut für Wirtschaftsforschung und der IWF mit rund 50 Prozent mehr Arbeitslosen gegenüber 2019. In der Schweiz ist das Bild weniger einheitlich – unterschiedliche Quellen prognostizieren einen stärkeren oder schwächeren Anstieg der Arbeitslosenquote als in Schweden. Gleichwohl ist klar: Schweden bleibt keineswegs von massiven wirtschaftlichen Einbussen verschont.


 

Unsicherheit hemmt

Ein wesentlicher Grund für die wirtschaftlichen Schäden Schwedens ist die grosse Unsicherheit, die den anhaltend hohen Infektionszahlen geschuldet ist. Sie schlägt sich direkt auf das Konsum- und  Investitionsverhalten der Menschen und Unternehmen nieder. Ende Mai folgerte Matthias Egger, Leiter der Task Force des Bundes, in einem Interview mit dem St.Galler Tagblatt: «Die Schweiz hat das besser gemacht. Sie hat entschieden reagiert und so die Fallzahlen runtergebracht. Und dabei hat sie wirtschaftlich wahrscheinlich keinen grösseren Schaden erlitten als Schweden.»

Summa summarum funktioniert der Sonderweg Schwedens nicht ohne Einschränkungen, nicht ohne einen ähnlich massiven Wirtschaftseinbruch, nicht ohne ein Vielfaches an Todesfällen. Daran wird auch eine allfällige zweite Welle nichts wesentlich ändern, zumal das Land noch weit von einer Herdenimmunität entfernt ist. Dazu sind Infektionsraten von deutlich über 60 Prozent erforderlich. Anfang Mai durchgeführte Antikörpertests ergaben indes Werte von lediglich 4 bis 7 Prozent. Art und Dauer der Immunantwort nach einer überstandenen Erkrankung bleiben zudem ungewiss.
 

Der grosse Unterschied

Dennoch lehrt uns der Sonderweg Schwedens Wesentliches für die anstehenden Wochen und Monate: Schuld an der wirtschaftlichen Krise ist nicht eine Regierung. Doch behördlich verordnete Einschränkungen machen es allzu einfach, die Regierung für die wirtschaftliche Misere verantwortlich zu machen. Dies weckt Begehrlichkeiten und Rufe nach einem starken Staat. In Schweden funktioniert dies nicht. Der Weg der  Eigenverantwortung ist nicht bloss ein Weg der zusätzlichen Freiheiten. Er erfordert auch, selbst Lösungen anzustreben: Unternehmerischer Tatendrang statt lethargische Staatsunterwerfung, Leistungs- statt Geisskannenprinzip – der Staat kann und soll nicht im Stile einer Vollkaskoversicherung alles richten. In der Schweiz tun wir gut daran, uns ebenfalls auf diese Werte zurückzubesinnen. Sie haben uns mitunter zum wirtschaftlichen Erfolgsmodell verholfen, das uns nun bei der Krisenbewältigung zugutekommt.

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