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Volkswirtschaftlich unterschätzt

Die Ostschweizer Gesundheitswirtschaft in Zahlen Volkswirtschaftlich unterschätzt

Prof. Dr. oec. HSG Tilman Slembeck, Gesundheitsökonom

Die Spitallandschaft in der Ostschweiz befindet sich im Wandel und wird momentan öffentlich diskutiert. Dabei geht gerne vergessen, dass unsere stationären Einrichtungen nur einen, wenn auch wichtigen Teil der gesamten Gesundheitswirtschaft darstellen. Wie eine eingehende Analyse zeigt, ist diese in der Ostschweiz viel umfangreicher, vielfältiger und wirtschaftlich bedeutsamer, als gemeinhin angenommen wird.

Wie die Schalengrafik zeigt, ist die Gesundheitswirtschaft sehr vielschichtig. Den Kernbereich bilden die stationäre und ambulante medizinische Versorgung. Neben den Spitälern und sozialmedizinischen Institutionen – wie Heime und Reha-Zentren – umfasst dies die niedergelassene Ärzteschaft, ebenso Zahnmediziner, Therapeuten und Laboratorien. Hinzu kommen die pharmazeutische und medizintechnische Industrie sowie Einrichtungen der Forschung und Entwicklung. Gross- und Einzelhandel wie Apotheken und Drogerien zählen auf einer nächsten Ebene ebenfalls hinzu. Schliesslich existieren viele auf den Gesundheitsbereich spezialisierte Dienstleistungs- und Ausbildungsorganisationen, nicht zuletzt Versicherungen, Beratungsstellen und spezialisierte Schulen verschiedener Art.

7 Milliarden Franken Umsatz

Wie eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ergab, umfasst die Ostschweizer Gesundheitswirtschaft (Kantone SG, AR, AI, TG) über 4 500 Unternehmungen, Organisationen, Praxen, Spitäler, Kliniken und Heime. Eine erstmals durchgeführte Befragung ermittelte eine Reihe weiterer interessanter Kennzahlen. Der Umsatz für den gesamten Sektor liegt bei geschätzten rund 7 Milliarden Franken pro Jahr.
Damit werden in unserer Region rund 55 000 Vollzeit­arbeitsplätze geschaffen, in verschiedensten Berufen und Qualifikationsstufen. Die jährlich bezahlten Löhne betragen ca. 4 Milliarden Franken. Die unten stehende Tabelle zeigt deren Aufteilung auf die wichtigsten Bereiche.
Obwohl es in der Schweiz kein eigenes Satellitenkonto für den Gesundheitssektor gibt, wie etwa in Deutschland, lässt sich die direkte Wertschöpfung für die Ostschweiz anhand vorliegender Daten abschätzen. Sie beträgt ca. 5,3 Milliarden Franken jährlich, wobei es sich hier um eine konservative Schätzung handelt, welche den tatsächlichen Wert unterschätzt. Mit rund 125 000 Franken pro Vollzeitbeschäftigten ist die direkte Bruttowertschöpfung im Quervergleich mit anderen Sektoren klar überdurchschnittlich.

Überraschend hohe Gesamtwertschöpfung

Eine ergänzende Betrachtung ergibt sich, wenn neben der direkten Wertschöpfung auch die indirekten und induzierten Wertschöpfungseffekte berücksichtigt werden. Diese ergeben sich dadurch, dass einerseits durch den Leistungsbezug aus anderen Branchen sowie andererseits durch die Verausgabung von Einkommen in der Gesamtwirtschaft zusätzliche Wertschöpfung ausgelöst wird.
Gemäss amtlicher deutscher Statistik ist davon auszugehen, dass für jeden Euro, welcher in der dienstleistenden Gesundheitswirtschaft – welche vorliegend dem Kern­bereich entspricht – geschöpft wird, ein Gesamteffekt (direkt, indirekt und induziert) von 1,75 Euro an Bruttowertschöpfung resultiert. Angewandt auf die Ostschweiz ergibt sich trotz konservativer Schätzung eine überraschend hohe Gesamtwertschöpfung von knapp 8 Milliarden Franken pro Jahr (siehe letzte Spalte in der Tabelle).
Bezogen auf die rund 27 000 Personen (Vollzeitäquivalente), welche im Kernbereich beschäftigt sind, entstehen somit jährlich knapp 300 000 Franken an Gesamtwertschöpfung pro Arbeitsplatz. Damit erweist sich der Kernbereich als überaus wertschöpfungsstark. Für die Bereiche Industrie, Handel und Dienstleistungen konnten mangels Vergleichszahlen keine klaren Schätzungen gemacht werden. Dennoch ist davon auszugehen, dass auch hier indirekte und induzierte Effekte von mehreren hundert Millionen jährlich hinzu kommen, selbst wenn die Wertschöpfungsintensität hier tiefer liegen dürfte, als im Kernbereich.

Demografie sorgt für Wachstumspotenzial

Hinsichtlich der volkswirtschaftlichen Bedeutung lässt sich insgesamt abschätzen, dass im Jahre 2015 mindestens 14,3% der direkten Wertschöpfung der Ostschweizer Kantone in der Gesundheitswirtschaft erzielt wurde. Hiermit zählt sie zu einem der grössten Wirtschaftssektoren. Nicht berücksichtigt sind hierbei unter anderem Betriebe, welche primär touristische Angebote machen, aber zudem Leistungen im Gesundheitsbereich anbieten. Ausdrücklich in der Untersuchung nicht erfasst wurden etwa auch Ernährungsberatungen sowie Einrichtungen für Sport, Fitness, Massagen, Wellness, Spiritualität etc., weil hier die Grenze zwischen eigentlicher Gesundheitswirtschaft und Lebens- oder Freizeitgestaltung fliessend ist. Für eine genauere Analyse sind zusätzliche Daten nötig.
Charakteristisch für die Gesundheitswirtschaft sind verschiedene Eigenschaften, die sie aus volkswirtschaftlicher Sicht besonders attraktiv machen. Die Produktivität der Arbeitsplätze ist überdurchschnittlich und die Wertschöpfung pro Kopf ist vergleichsweise hoch. Aufgrund des Megatrends zu mehr Konsum von Gesundheitsleistungen sowie der demografischen Alterung sind die Zukunfts- und Wachstumsaussichten für diesen Sektor besonders gut. Zudem ist er bezüglich Konjunkturzyklen stabiler als andere Sektoren und kann deshalb zur Stabilisierung konjunktursensibler Branchen, wie etwa dem Tourismus, beitragen.
Eine besonders wünschenswerte Eigenschaft ist die branchenübergreifende Vernetzung, die eine volkswirtschaftlich breite Verankerung bewirkt und eine Vielzahl von Berufen und Qualifikationen einbindet. Ein Kur- oder Rehabilitationszentrum etwa beschäftigt neben medizinischem und pflegerischem Personal auch Menschen in Gebäudeunterhalt, Verwaltung, Garten, Küche, Reinigung und ­Wäscherei. Hinzu kommen die Aufträge an verschiedene regionale Zulieferer.

Zum Autor

Prof. Dr. oec. HSG Tilman Slembeck ist Volkswirtschaftsprofessor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), Leiter des Center for Economic Policy und Dozent mit Lehrauftrag an der Universität St. Gallen (HSG). Studium und Promotion an der HSG, langjährige Forschungsaufenthalte in den USA, Grossbritannien und Australien. Schwerpunkte sind Theorie und Praxis der Wirtschaftspolitik, Gesundheitsökonomie und experimentelle Wirtschaftsforschung. Umfangreiche Tätigkeit als Autor, Referent, Experte und Gutachter.