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Mit voller Wucht geroffen

Wirtschaftliche Entwicklung der Kernregion Ostschweiz Mit voller Wucht geroffen

Coronavirus trifft Ostschweizer Wirtschaft mit voller Wucht

Alessandro Sgro, Chefökonom IHK St.Gallen-Appenzell

Einbrechende Nachfrage, unterbrochene Lieferketten, fehlende Fachkräfte und abnehmender Export: Die Corona-Pandemie trifft die stark exportorientierte Ostschweizer Wirtschaft hart. Ein unsicherer Ausblick lässt auch Investitionen versiegen. Die Geschäftsentwicklung leidet. Doch kreative Unternehmen und ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigen: Es besteht auch Hoffnung.

Neun von zehn Ostschweizer Unternehmen haben Erschwernisse aufgrund der Corona-Pandemie oder erwarten diese noch. Das zeigten die drei Umfragen «Coronavirus und Ostschweizer Wirtschaft» der IHK St.Gallen-Appenzell und IHK Thurgau bei über 2000 Unternehmen während den Monaten März und April. Dabei war der Grossteil davor mehrheitlich gut ins neue Geschäftsjahr gestartet. Über 90 Prozent der befragten Unternehmen beurteilten die Geschäftsentwicklung der ersten beiden Monate dieses Jahres als befriedigend bis gut. 79 Prozent gaben zudem an, zum Jahresbeginn noch keine besonderen Erschwernisse aufgrund des Coronavirus gespürt zu haben. Spätestens ab Anfang März änderte sich dieses Bild dramatisch. Die einschneidenden Massnahmen zur Eindämmung des Virus führten zu deutlichen Erschwernissen in der Geschäftsentwicklung.
Mehr als drei Viertel aller befragten Unternehmen kämpften vor allem mit einem deutlichen Nachfragerückgang bei Produkten und Dienstleistungen. Unternehmen aus den Kantonen St.Gallen und Thurgau waren gleichermassen betroffen, Unternehmen aus beiden Appenzell gar noch stärker. Insgesamt traf es Grössere stärker als Kleinere. Neben einem starken Einbruch bei der Nachfrage machten vor allem auch Erschwernisse bei den Lieferketten (Verzögerungen, Unterbrüche) und Grenzschliessungen zu schaffen. Unterschiedlich betroffen waren die Branchen: So sahen sich im Industriesektor vor allem Unternehmen aus dem Maschinen- und Metallbau, der Herstellung von Holzwaren, der Textilindustrie sowie dem Baugewerbe grösseren Schwierigkeiten gegenüber. Im Dienstleistungssektor waren es vorwiegend Unternehmen aus dem Gross- und Detailhandel sowie der Informationstechnologie.

 

 

Unterstützungsmassnahmen wirken 

Die Erschwernisse der Ostschweizer Wirtschaft widerspiegelten sich in der Folge in den Geschäftszahlen. Zahlreiche Unternehmen mussten deutliche Umsatzeinbussen hinnehmen. Ein Fünftel der befragten Unternehmen rechnete Ende April mit Umsatzeinbussen von über 40 Prozent für das erste Halbjahr.
Fehlender Umsatz führt zu Liquiditätsengpässen, zumal die finanziellen Verpflichtungen für Fixkosten weiterbestehen. Je kleiner ein Unternehmen ist, desto akuter ist das Liquiditätsproblem. Grössere Unternehmen verfügen in der Regel über grössere Reserven. Für das weitere Funktionieren der Wirtschaft ist es entscheidend, die betroffenen Unternehmen mit der benötigten Liquidität zu versorgen. Neben den verbürgten Krediten ist die Kurzarbeit ein weiterer fiskalpolitischer Stabilisator. Sie hilft den Unternehmen, die Lohnkosten, die in der Schweiz zwischen 40 und 50 Prozent der Fixkosten ausmachen, einzusparen und aus volkswirtschaftlicher Sicht die Arbeitsplätze zu erhalten. Das Instrument der Kurzarbeit scheint, zumindest kurzfristig, einen effektiven Beitrag geleistet zu haben. Zwar geht der Grossteil der befragten Unternehmen nicht davon aus, Kurzarbeit demnächst reduzieren zu können. Trotz der Erschwernisse und der benötigten Kurzarbeit rechneten die Ostschweizer Unternehmen bei der letzten Umfrage nicht mit einer Kündigungswelle.

 

Zurückhaltendes Investitionsverhalten 

Je länger eine Krise anhält, desto ausgeprägter wird die Unsicherheit und desto wahrscheinlicher passen Unternehmen ihr Verhalten an die Krise an – insbesondere das Investitionsverhalten. Ende April gingen mehr als die Hälfte der Umfrageteilnehmer davon aus, dass die Erschwernisse aus der Krise noch länger als sechs Monate andauern werden. 64 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, Investitionen zurückzuhalten. So verständlich dies aus Liquiditätsüberlegungen sein mag, so kritisch ist es für die Zukunft. Investitionen führen mittels Forschung und Entwicklung zu Innovationen und Produktivitätssteigerungen und sind entscheidend für das langfristige Wachstum. Wird zu wenig investiert, sinkt das Wachstumspotenzial.

Trotz der hohen Zurückhaltung zeigen sich in dieser Krise auch innovative und ermutigende Signale. Die Hälfte aller befragten Unternehmen sieht in der aktuellen Situation auch Chancen, vor allem bei der Digitalisierung von Prozessen. Zudem lässt die Kreativität der Unternehmen neue und innovative Produkte und Dienstleistungen entstehen.

 

 

Mit Substanz in den nächsten Zyklus

Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt: Prägende Innovationen sind gerade in Zeiten höchster Not entstanden. Dazu gehören im industriellen Bereich beispielsweise die Dampfmaschine oder die Eisenbahn. Diese sogenannten Basisinnovationen führten in der Folge jeweils zu einem regelrechten wirtschaftlichen Aufschwung. Der russische Ökonom Nikolai Kondratieff stellte in seinem 1926 veröffentlichten bahnbrechenden Aufsatz «Die langen Wellen der Konjunktur»1 die Existenz von sehr langen Konjunkturwellen fest, die zwischen vierzig und sechzig Jahre andauern können. Bemerkenswert und bei allen identifizierten Zyklen identisch ist der Start des Zyklus während einer Krise. Die aktuelle Krise könnte der Beginn eines neuen sogenannten Kondratieff- Zyklus sein, angetrieben durch eine verstärkte Digitalisierung sowie Fortschritte in der Biotechnologie.
Die Wirtschaft erwacht nach dem behördlich verordneten Lockdown wieder langsam zum Leben. Bis zur Rückkehr zum Vorkrisenniveau wird es aber noch längere Zeit dauern. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist es zentral, die Wirtschaftssubstanz zu erhalten, sodass auch eine Unternehmenskultur gelebt werden kann, die sich durch Eigenverantwortung und Innovation auszeichnet. Dazu gehört es, die vom Bund unterstützten und bewährten Instrumente der Kurzarbeit und verbürgten Kredite effizient einzusetzen.

 

1Kondratieff, N.D. (1979). The long waves in economic life. Review (Fernand Braul Center), 519-562. 

 

Spotlight

Über die Schwierigkeiten, Prognosen zu erstellen 

Zwei Umstände machen Konjunkturprognosen zurzeit enorm schwierig: erstens die äusserst seltene Kombination von Schocks, die in herkömmlichen Prognosemodellen kaum abzubilden ist. Zweitens die Geschwindigkeit, mit der die Entwicklung voranschreitet.
Üblicherweise gehen wir für Konjunkturprognosen von einem relativ starren Angebot aus, das den langfristigen Wachstumstrend bestimmt. Die kurze Frist modellieren wir über die Nachfrageseite: Schwankungen der ausländischen und inländischen Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern bestimmen den BIP-Verlauf des laufenden und kommenden Jahres.

Aussergewöhnliche Unsicherheiten 
Gegenwärtig aber brechen starke Angebots- und Nachfrageschocks gleichzeitig über die Wirtschaft herein: Mit dem Lockdown im Inland erlebte die Schweiz eine unmittelbare Störung der Produktion. Durch die internationale Verbreitung von Covid-19 und die Gegenmassnahmen brach zudem die Auslandnachfrage nach Schweizer Produkten ein. Mit den Lockerungen der gesundheitspolizeilichen Massnahmen wird sich die Angebotsseite allmählich erholen. Die Nachfrageschwäche im In- und Ausland wird dann eine schnelle Erholung auf das Vorkrisenniveau jedoch verhindern, denn die Einkommensverluste sind trotz Kurzarbeit gross. Hygienevorschriften, beispielsweise beim Gastgewerbe und Tourismus, werden den Konsum weiterhin hemmen. Die schwachen Aussichten und die Unsicherheit dürften zudem die Investitionstätigkeit lange stark bremsen. Daher gingen wir beim Staatssekretariat für Wirtschaft SECO zu einer angebotsseitigen Prognose über: Wir schätzen den Produktionsausfall aus Branchenperspektive während dem Lockdown auf gut 20 Prozent.
Daraus ergibt sich für das erste Halbjahr eine Grössenordnung für denEinbruch. Um die Entwicklung für das zweite Halbjahr abzuschätzen, treffen wir Annahmen zur Erholung der Auslandnachfrage und verwenden geschätzte Zusammenhänge auf der Nachfrageseite. Die Unsicherheiten im gegenwärtigen Umfeld sind allerdings aussergewöhnlich gross. Beispielsweise liegen uns keine verlässlichen Szenarien für künftige Verläufe der Epidemie und mögliche Gegenmassnahmen vor.

Temporeiche Entwicklungen 
Ebenfalls neu ist, dass sich die Schocks in einer bisher nie gesehenen Geschwindigkeit auf die Realwirtschaft auswirken. Ende Februar befand sich die Schweizer Wirtschaft mehrheitlich noch im Normalzustand. Zwei Wochen später herrschte bereits der Ausnahmezustand. Herkömmliche Wirtschaftsstatistiken können mit diesem Tempo nicht mithalten. In der Konjunkturanalyse arbeiteten wir bisher meist mit Quartals- und Monatsdaten, die nur mit Verzögerung publiziert werden können. So erscheinen beispielsweise die Zahlen zur Industrieproduktion für das erste Quartal erst Ende Mai. Deshalb benutzen wir vermehrt Wochen- oder Tagesdaten wie beispielsweise zum Gütertransport oder zum Elektrizitätsverbrauch. Diese Daten bestätigen unsere Prognose und zeigen, dass mit dem Ende des Lockdowns der Wendepunkt erreicht ist und es wieder aufwärts geht. Das Vorkrisenniveau wird dieses Jahr aber unerreicht bleiben.

Dr. Ronald Indergand ist Leiter Ressort Konjunktur beim Staatssekretariat für Wirtschaft 

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