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Konjunktur: Gesichter und Geschichten hinter einem abstrakten Begriff

Im Austausch mit IHK-Mitgliedern Konjunktur: Gesichter und Geschichten hinter einem abstrakten Begriff

Jan Riss, wissenschaftlicher Mitarbeiter IHK

In Konjunkturanalysen wird aggregiert, abstrahiert, prognostiziert. Am Ende interessiert eine nackte Zahl. Dahinter stecken jedoch unzählige Gesichter und Geschichten, unternehmerisches Geschick und Scheitern, Tatendrang und zuweilen Machtlosigkeit. Dies trifft auf die aktuelle Situation ganz besonders zu. Vier IHK-Mitglieder gewähren persönliche Einblicke.

«Unsere Wertschöpfungsketten wurden auf eine harte Probe gestellt. Doch unsere Strategie mit breit abgestützten, langjährigen Partnerschaften hat sich bewährt.»

Starke Auftragsschwankungen, regelrechte Preisrallyes und kurze Planungshorizonte gehören zum Alltag der Stahl- und Metallhandelsbranche, in der Michael Thüler mit stürmsfs tätig ist. 2020 wird aber auch dem CEO des Goldacher Traditionsunternehmens als besonders he­rausforderndes Jahr in Erinnerung bleiben. Insbesondere der Einbruch im Maschinenbau und in der Automobilbranche traf stürmsfs als indirekten Zulieferbetrieb. Für 2020 resultiere deshalb ein Umsatzrückgang von 15 bis 20 %, wobei das erste Quartal noch stark stützend gewirkt habe. Diese Zahlen seien im Vergleich zur Konkurrenz in Österreich noch relativ harmlos, so Thüler: «Einzelne Grossunternehmen in den weiterhin absatzstarken Bereichen Halbleiterindustrie, Bahnbau oder Wehrtechnik stützen das Stimmungsbild in der Branche hierzulande.» stürmsfs kämen überdies die breit abgestützte Marktpositionierung sowie die langfristig gepflegten Beziehungen mit Kunden und Lieferanten zugute. «Mit einem hohen Mass an Flexibilität und einer ausgezeichneten Liefertreue konnten wir auch in den vergangenen Monaten als zuverlässiger Partner auftreten. Der Markt belohnt diese Zuverlässigkeit mit Kundentreue und prioritärer Behandlung durch Lieferanten.»

Für 2021 rechnet Michael Thüler deshalb mit einem Umsatzwachstum im mittleren einstelligen Bereich, der Aufholeffekt dürfte bis weit ins Jahr 2022 zu spüren sein. Insbesondere für die nach Deutschland, China und in die USA ausgerichtete Exportindustrie geht Thüler von einem baldigen Aufschwung aus. «Für eine Erholung in der Schweiz brauchen wir aber wieder eine positive Grundstimmung, unternehmerische Perspektiven, Investitionsanreize», so Thüler. Die öffentlich ausgetragene politische Debatte müsse dazu weg von der Verbots- und hin zu einer Ermöglichungsperspektive.

stürmsfs wolle derweil an der langfristigen Strategie mit einer vergleichsweise hohen Fertigungstiefe festhalten. «Konfektionierung und Logistik werden für die Branche einem langfristigen Trend folgend weiter an Bedeutung gewinnen», ist Michael Thüler überzeugt. Insbesondere für den Schweizer Markt richte sich der Fokus weiterhin auf Just-in-Time-Produktion, kleine Stückzahlen und individuelle Konfigurierbarkeit. «Die Digitalisierung wird deshalb auch in der Stahl- und Metallbranche immer stärker Einzug halten. Hier müssen wir weiter Pionierarbeit leisten.» Weitere Erkenntnisse von Michael Thüler aus den vergangenen Monaten: «In Normalzeiten müssen die strategischen und operativen Hausaufgaben gemacht werden. In einer Krise gilt es dann, klar und verständlich zu kommunizieren sowie konsequent zu entscheiden und zu handeln.»

Michael Thüler – stürmsfs, Goldach
Die stürmsfs ag beliefert die Industrie und baunahe Betriebe mit jährlich knapp 100000 Tonnen Stahl- und Metallhandelsprodukten. Am Hauptsitz in Goldach und an drei weiteren Standorten in der Schweiz und Österreich sind rund 230 Mitarbeitende für die Produktion von täglich über 1200 Positionen besorgt. Michael Thüler leitet das 1835 gegründete Familienunternehmen seit sieben Jahren als CEO. In dieser Funktion engagiert er sich auch als Präsident des AGV Rorschach sowie als Mitglied des regionalen Wirtschaftsbeirats der Schweizerischen Nationalbank.

«Hätte jemand Anfang 2020 eine Pandemie solchen Ausmasses in unsere betriebsinterne Risikoanalyse einfliessen lassen, dann hätte ich diese Person wahrscheinlich für verrückt erklärt.»

«Verrückt» – ein treffender Begriff, um das erste Jahr von Tina Gautschi als CEO der Gautschi Gruppe zu beschreiben. Die diplomierte Bauführerin übernahm im Januar letzten Jahres die Führung des im Baugewerbe tätigen Familienunternehmens.

Seither entwickle sich das Marktumfeld in eine «sehr beunruhigende Richtung», so Gautschi. «Wir erhalten überall dieselben Rückmeldungen: Corona trifft die Baubranche sehr hart – sowohl im Hoch- als auch im Tiefbau.» Der unerbittliche Preiskampf ist schon lange kennzeichnend für die Ostschweizer Baubranche. Mit Corona sei der Druck aber nochmals massiv verschärft worden. «Der Branchenalltag ist geprägt von ‹Panikofferten›, die einen massiven Marktpreiszerfall verursachen. Viele Akteure kalkulieren mit bedrohlich tiefen oder sogar negativen Margen.» Investitionen würden kaum getätigt. Tina Gautschi rechnet deshalb mit einer grossen Konsolidierung in der Branche.

Auch die Gautschi Gruppe sieht sich veranlasst, nur die nötigsten Investitionen zu tätigen. Um Aufträge zu generieren, beteiligt sie sich an möglichst vielen Submissionen. Auch soll das Marktgebiet geografisch und produktbezogen erweitert werden. Entscheidend sei dabei, den Planungsunsicherheiten mit höchster Flexibilität zu begegnen, ist Tina Gautschi überzeugt. «Bauprojekte sind sehr komplex, was die Sache ja so spannend macht. Neben den hohen fachlichen Fähigkeiten spielen zunehmend soziale Kompetenz und Führungsverhalten bei der Steuerung von Bauvorhaben eine Rolle.» Man sei sich in der Baubranche an eine gewisse Schnelllebigkeit der Planung gewohnt, die Pandemie ändere hier nur wenig. «Viel stärker machen uns behördliche Auflagen und Vorgaben zu schaffen. Gerade im Kanton St. Gallen sind Baueingaben oft unnötig kompliziert.»

Tina Gautschi möchte den grossen konjunkturellen und strukturellen Herausforderungen in der Baubranche aber auch Positives abgewinnen: «Wir haben die Digitalisierung im Unternehmen nochmals forciert. Nun verfügen wir gar über eine eigene App, darauf bin ich sehr stolz!»

Tina Gautschi – Gautschi Gruppe, St. Margrethen
Die Gautschi Gruppe mit Sitz in St.Margrethen deckt einen grossen Teil des Bauhaupt- und -nebengewerbes ab. Das Familienunternehmen beschäftigt knapp 400 Mitarbeitende an elf Standorten. Tina Gautschi ist seit 2018 in der Gautschi Gruppe tätig, seit vergangenem Jahr führt sie das Traditionsunternehmen in sechster Generation.

«Aktuell sind wir voll ausgelastet und investieren – in Personal, in Gerätschaften, in kundenspezifische Lösungen»,

zeigt sich Johannes Widmer voller Tatendrang. Das ist nicht selbstverständlich. Als Geschäftsleiter der Gallus Media AG ist Widmer unter anderem im Bereich Event- und Kongresstechnik tätig. Die Branche blickt auf eine regelrechte Zäsur zurück. Johannes Widmer vergleicht die vergangenen Monate mit einer Dürrekatastrophe. Wenn das bisher bekannte Wasserloch plötzlich zu versiegen droht, gebe es zwei Varianten: um das schwindende Wasser kämpfen oder aber aktiv nach Alternativen suchen. Gallus Media entschied sich für Letzteres: «Wir sagten uns: Jetzt müssen wir den Kunden erst recht ins Zentrum rücken und proaktiv Lösungen erarbeiten – auch wenn dieser Weg unbequem ist und die viel­zitierte Extrameile erfordert.»

Das heisst zuweilen auch: radikal Abschied nehmen von herkömmlichen Eventkonzepten mit Bühne und Publikum, Raum schaffen für neue Formen der Interaktion. «Klar, keine Onlineveranstaltung ersetzt den persönlichen Austausch», sagt Widmer. Doch gewisse digitale Networking-Lösungen würden gar besser funktionieren als bisher Gewohntes. Als Beispiel nennt er einen Ärztekongress mit weltweit rund 5000 Teilnehmenden, der dank Verlagerung in den digitalen Raum eine zeitlich und örtlich unabhängige Interaktion zu den einzelnen Fach-Inputs ermöglichte. Oder die Übertragungen der Gottesdienste aus der St. Galler Kathedrale, die bereits über 20 Millionen Zuschauer in der ganzen Welt erreichten. «Von diesen Erfahrungen werden wir auch in Zukunft profitieren.»

Eine Zukunft, die gemäss Johannes Widmer zu einer Konsolidierung in der Branche führen dürfte und die sich auch für Gallus Media schwer planen lässt: «Das Marktumfeld präsentiert sich nervös. Belastbare Prognosen zur Auftragslage sind nur für ein bis zwei Monate möglich.» Normalerweise betrage dieser Horizont eineinhalb bis zwei Jahre. Verkürzte Amortisationszyklen für Investitionen in technisches Equipment, das zeitweilig kaum verfügbar sei, müssen mit einer höheren Auftragsdichte kompensiert werden. All diese Herausforderungen, so Johannes Widmer, seien nur mit einem hohen Mass an Flexibilität, Durchhaltewillen, etwas Glück und vor allem einem unvergleichlichen Einsatz des gesamten Teams zu bewältigen.

Johannes Widmer – Gallus Media AG, St. Gallen
Johannes Widmer führt die Gallus Media AG seit 28 Jahren als Geschäftsleiter. 1963 als Tonstudio gegründet, ist das St.Galler Unternehmen heute eine feste Grösse in der Konzeption, Planung und Realisation von Projekten und Veranstaltungen im Audio- und Videobereich. Das 17-köpfige Team verantwortet unter anderem jeweils die Eventtechnik bei «Zukunft Ostschweiz».

Lieferverzüge, Investitionsstau, Reiseeinschränkungen: Der Rheintaler Baumaschinenhersteller Menzi Muck AG sieht sich seit Monaten mit einem äusserst herausfordernden Markt­umfeld konfrontiert.

«Als Folge sahen respektive sehen wir uns dazu gezwungen, gewisse Aufträge zu verschieben»,

schildert Geschäftsführer Christian Caduff die unberechenbare Situation. Besonders betroffen ist mit dem Schreitbagger das Kernstück der Produkt­gruppe: Um einen Produktionsstillstand abzuwehren, mussten gewisse Komponenten anderweitig beschafft und Maschinen gar ­einem Re-Design unterzogen werden. In Zukunft werde Menzi Muck deshalb die komplette Beschaffungskette besser absichern, lokaler agieren und die Marktentwicklungen sehr genau verfolgen, so Caduff.

Auch im Verkauf und im After-Sales-Management sind unkonventionelle Lösungen gefragt. Die Reiseeinschränkungen erschweren die Akquise in bestehenden und neuen Märkten. «Wir können die neusten Technologien und Innovationen des Schreitbaggers nicht optimal aufzeigen», so Caduff. Man arbeite bestmöglich mit Bild- und Videomaterial, doch der Mehrwert lasse sich damit nicht wie gewünscht vermitteln. Im Service sind zudem Ferndiagnosen und Reparaturen per Fernzugriff notwendig. «Dies ist herausfordernd und kann die direkte Arbeit beim Kunden niemals ersetzen. Wir erfahren dadurch aber einen gewissen Digitalisierungsschub im Service, von dem wir in Zukunft profitieren werden.»

Für das erste Halbjahr 2021 erwartet Christian Caduff eine weiterhin umkämpfte Marktsituation. Die Entwicklung hänge sehr stark mit den Restriktionen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zusammen. «Die Verunsicherung bei den Kunden hält entsprechend an», so Caduff. Dies äussere sich in einem vorsichtigeren Investitionsverhalten, die Auftragslage sei deshalb branchenübergreifend angespannt. Ein grosser Teil der Kundschaft wie auch der Lieferanten sehe der Zukunft dennoch optimistisch entgegen. So auch Christian Caduff: «In der Krise zeigt sich die gute Basis unseres Unternehmens: Einsatzbereitschaft und Flexibilität unserer Mitarbeiter, ein innovatives Topprodukt und ein von Vertrauen und Loyalität geprägtes Verhältnis zu unseren Kunden und Besitzern.»

Christian Caduff – Menzi Muck AG, Rüthi SG
Die 1966 gegründete Menzi Muck AG ist führende Herstellerin von Schreitbaggern und weiteren Baumaschinen für schwieriges Gelände. Die Einsatzgebiete der unverkennbaren gelben Bagger und Dumper reichen von der Bauwirtschaft über den Geleisebau bis hin zur Forsttechnik. Christian Caduff betreibt als Geschäftsführer der Sparte Menzi Muck und als Technischer Leiter gemeinsam mit 180 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Standorte in der Schweiz, in Österreich, in der Slowakei und in Norwegen.

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