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Gibt es Alternativen zum gescheiterten Rahmenabkommen Schweiz-EU?

Schweiz-Europa Gibt es Alternativen zum gescheiterten Rahmenabkommen Schweiz-EU?

Prof. Dr. Matthias Oesch, Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Zürich

Die bilateralen Abkommen gelten als Erfolgsgeschichte. Sie werden von Volk und Ständen getragen und liefern grossenteils die gewünschten Resultate. Nun hat die Schweiz die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen abgebrochen, obwohl eine tragfähige Alternative nicht in Sicht ist. Der bilaterale Weg wird steiniger und beschwerlicher.

Im Mai 2021 erklärte der Bundesrat, die Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen abzubrechen. Die Gründe dafür sind bekannt: Die EU war nicht bereit, der Schweiz bei der Gewährleistung des Lohnschutzes, der Nichtübernahme der Unionsbürgerrichtlinie und der Nichtanwendbarkeit der Beihilfe­regeln auf das Freihandelsabkommen vollumfänglich entgegenzukommen. Das Scheitern des Rahmenabkommens ist bedauerlich. Es wäre darum gegangen, mit einem neuen institutionellen Gerüst die Voraussetzungen für die Fortführung des bilateralen Wegs zu schaffen. Das Rahmenabkommen hätte den bilateralen Acquis auf eine solide Grundlage gestellt und zu seiner weiteren Verrechtlichung beigetragen. Es hätte zum Preis gehört, den die Schweiz dafür ­bezahlt, sektoriell weiterhin in mitgliedstaatsähnlicher Weise am Binnenmarkt teilzuhaben, ohne die Regeln des Clubs vollumfänglich akzeptieren zu müssen. Die EU verlautete seit Längerem, dass sie ohne Rahmenabkommen nicht bereit ist, die geltenden Abkommen aufzudatieren (z.B. Medizinaltechnik), Hand zu bieten für Kooperationen in weiteren Bereichen (z.B. Börsenäquivalenz, Horizon Europe, Kultur, Gesundheit) und neue Abkommen über die Beteiligung am Binnenmarkt abzuschliessen (z.B. Stromabkommen). Sie sendete damit die klare Botschaft aus, dass sie den Status quo nicht mehr als valable Option betrachtet. Nach dem Verhandlungsabbruch besteht die reale Gefahr, dass der bilaterale Weg erodiert; das ist keine verlockende Perspektive.

Alternativen?

Eine tragfähige Alternative ist nicht in Sicht. So wird etwa gefordert, neue Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen aufzugleisen und dabei die Andockung der Schweiz an den EFTA-Gerichtshof und die EFTA-Überwachungsbehörde zu prüfen. Mit Blick auf denkbare Anwendungsfälle dürfte es allerdings kaum einen Unterschied machen, ob der EuGH oder der EFTA-Gerichtshof mit einer Streitsache betraut wird. Bei der dynamischen Rechtsübernahme – dem Herzstück eines jeden Rahmenabkommens, mit dem die Binnenmarktteilhabe geregelt wird – dürften sich die gleichen Fragen stellen, welche bereits bis anhin kontrovers diskutiert wurden. Es ist nicht ersichtlich, weshalb die EU hier in einigen Jahren zu Konzessionen bereit sein sollte, welche sie der Schweiz bis anhin nicht gewähren mochte.

Vereinzelt wird das Heil in einem nochmaligen Anlauf für einen EWR-Beitritt erblickt. Die EWR-Option scheint für die Schweiz – ungeachtet des Charmes der umfassenden Binnenmarktteilhabe – allerdings kaum erstrebenswert. So ist der EWR weiterhin durch institutionelle Besonderheiten charakterisiert, welche bereits 1992 zur Ablehnung eines Beitritts beitrugen (fehlende Mitentscheidungsrechte; supranationaler Charakter). Weiter dürfte ein Beitritt der Schweiz das Einstimmigkeitsprinzip aufseiten der EWR-EFTA-Staaten arg strapazieren; es bestünde das Risiko, dass die fein austarierte Balance zwischen den EWR-EFTA-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen wie auch die eingespielte Zusammenarbeit zwischen der EU und den EWR-EFTA-Staaten unnötig aufs Spiel gesetzt würden. Schliesslich stösst der EWR systembedingt an Grenzen. Stirnrunzeln bereiten etwa die zeitweise unklare Binnenmarkt- und damit EWR-Relevanz von EU-Rechtsakten und die Verzögerung ihrer Übernahme in das EWR-Abkommen (backlogs) wie auch das komplizierte Verhältnis der EWR-EFTA-Staaten zu den unionalen Agenturen.

Gewisse Kreise schlagen vor, den Rückbau des bilateralen Acquis zu einem – allenfalls modernisierten – Freihandelsabkommen zu prüfen. Ein solches Arrangement würde zwar erlauben, institutionell weiterhin nach klassisch völkerrechtlichen Mustern zu verfahren. Es würde den Bedürfnissen der hiesigen Wirtschaft allerdings kaum angemessen Rechnung tragen. Auch wäre eine enge Zusammenarbeit in weiteren Bereichen – wie Personenfreizügigkeit und Schengen/Dublin – nicht möglich. Die Scheidungsverhandlungen der EU mit dem Vereinigten Königreich haben gezeigt, dass die EU gegenüber Drittstaaten weiterhin konsequent auftritt und ihnen nur eine mitgliedstaatsähnliche Beteiligung am Binnenmarkt gewährt, wenn sie den Grundsatz der Unteilbarkeit der Grundfreiheiten und das institutionelle Credo des «form follows function» respektieren; es gibt «kein Rosinenpicken» (Europäischer Rat, 2017).

Die Schweiz tut gut daran, sich der Vor- und Nachteile dieser denkbaren Alternativen bewusst zu sein, wenn sie über die nächsten ­europapolitischen Schritte entscheidet. Es ist symptomatisch, dass der Bundesrat beim Verhandlungsabbruch keinen überzeugenden Plan B aufgezeigt hat; es gibt – zumindest kurzfristig – keinen valablen.

Ausblick

Längerfristig wird die Schweiz nicht darum herumkommen, ihr Verhältnis zur EU grundsätzlich zu überdenken. Der bilaterale Ansatz bleibt störungsanfällig. Er ist unübersichtlich und wenig systematisch aufgebaut. Aus demokratietheoretischer Warte fällt die fortlaufende Übernahme von EU-Recht negativ ins Gewicht. Weiter ist Europa als Ganzes gefordert, Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit zu finden, etwa im Bereich des Klimawandels, der Digitalisierung und der Wahrung der europäischen Werte und Inte­ressen auf dem internationalen Parkett. Damit rückt unweigerlich die Frage ins Zentrum, ob sich eine weitergehende Integration der Schweiz aufdrängt – weg von der Politik, als Passivmitglied die Rechtsentwicklungen in der EU nur nachzuvollziehen, hin zur konstruktiven Mitwirkung und Übernahme von Verantwortung im Verbund mit gleichgesinnten Staaten. Es wäre an der Zeit, sachlich und vorurteilslos auch die Option eines EU-Beitritts zu prüfen.

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