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Europa – mittendrin und doch nicht dabei?

Rahmenabkommen: Bedauerlicher Verhandlungsabbruch Europa – mittendrin und doch nicht dabei?

Markus Bänziger, IHK-Direktor

Mit dem abrupten und einseitigen Verhandlungsabbruch beim institutionellen Rahmenabkommen durch den Bundesrat droht der bilaterale Weg und damit ein Wohlstands­garant zu erodieren. Zahlreiche exportorientierte KMU sehen sich mit hohen Unsicherheiten konfrontiert und bangen um den Marktzugang zum wichtigsten Handelsraum. Der Bundesrat hat den Verfassungsauftrag ungenügend erfüllt, die Interessen der schweizerischen Wirtschaft im Ausland zu wahren. Dies muss er nun korrigieren. Ein Neustart mit einer konstruktiven Lösungsfindung dürfte Jahre beanspruchen – zulasten des Wohlstands in der Kernregion Ostschweiz.

Der überraschende Verhandlungsabbruch beim institutionellen Rahmenabkommen (InstA) durch den Bundesrat ist in mehrfacher Hinsicht bedauerlich und schockierend:

1. Ein barrierearmer Zugang zum wichtigsten und geografisch, sprachlich, gesellschaftlich und kulturell nahestehendsten Absatzmarkt ist für die Schweizer Exportwirtschaft und vor allem die Ostschweizer Wirtschaft heute und in Zukunft zentral. Die Aktualisierung der bestehenden und die Aushandlung von neuen bilateralen Verträgen sind für den Wirtschafts- und Lebensstandort Schweiz wesentlich. Den bestehenden Verträgen droht die Erosion. Die Verhandlung eines neuen Abkommens ist ungewiss.

2. Verträge müssen kritisch auf Chancen und Risiken untersucht werden. Sieben Jahre – davon vier Jahre Verhandlungsführung mit einem klaren Mandat von Bundesrat unter Einbezug der kantonalen Direktorenkonferenz (KDK), dann drei Jahre Unentschlossenheit und Zerredung – sind zu viel. Starke Verhandlungspositionen für die Zukunft aufbauen geht anders.

3. Neustart, Zielfindung, Verhandlungsführung und Konsenssuche dürften mindestens wiederum Jahre an Zeit und Energie absorbieren, während die heutigen Differenzen mit der EU nicht einfach verschwinden werden.

Die Ostschweizer Wirtschaft lebt von der Vielfalt an Branchen und Produkten und der Ausgewogenheit zwischen Binnen-, Export- und Importwirtschaft. Der Anteil der Industrie und des produzierenden Gewerbes ist in der Ostschweiz im schweizweiten Vergleich überdurchschnittlich hoch. Schweizer Unternehmen erwirtschaften im Aussenhandel mehr als jeden zweiten Franken mit der EU, Ostschweizer knapp zwei von drei. Dies ist wenig überraschend, liegt die Ostschweiz doch im östlichen Grenzgebiet mit Baden-Württemberg, Bayern, Vorarlberg und Liechtenstein. Die von der IHK St.Gallen-Appenzell zusammen mit der IHK Thurgau bei BAKEconomics in Auftrag gegebene Studie vom Sommer 2020 zeigt auf, dass die Ostschweiz stärker als die übrige Schweiz auf den Marktzugang zu Europa angewiesen ist: Besonders stark ist der Thurgau betroffen, darauf folgt der Kanton St.Gallen. Selbst die beiden Halbkantone Appenzell Inner- und Ausserrhoden sind stärker von den Bilateralen abhängig als die übrige Schweiz. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe:

1. Die Ostschweizer Wirtschaftsstruktur weist einen überdurchschnittlich hohen Industrieanteil auf, insbesondere im Investitionsgüterbereich: Die Abkommen über die technischen Handelshemmnisse (MRA) und über die Forschungszusammenarbeit sind daher besonders wichtig.

2. Der ausgeprägte Fachkräftemangel in der Ostschweiz wird dank der Personenfreizügigkeit, namentlich den Fachkräften aus Süddeutschland und Vorarlberg, gemildert.

Debatte lanciert, Fakten statt Doktrin

Die Vorstände der Industrie- und Handelskammer St.Gallen-Appenzell und der Industrie- und Handelskammer Thurgau haben sich im Sommer 2020 gemeinsam in ­einem intensiven Prozess unter Beizug von Fachexperten mit dem institutionellen Rahmenabkommen, dessen zentralen Themen und den Alternativen auseinandergesetzt. Beide Vorstände sind davon überzeugt, dass das ausgehandelte InstA dazu beigetragen hätte, die heutigen wohlstandsbildenden Marktzugangsabkommen zu sichern und neue zu ermöglichen, um damit die zukünftige wirtschaftliche Beziehung mit dem wichtigsten Handelspartner zu sichern. Für die Vorstände der beiden IHK war ausserdem klar: Es braucht Klärungen bei der Unionsbürgerrichtlinie (UBRL) und den staatlichen Beihilfen. Die Erkenntnisse dieses Prozesses brachten das «Vademecum zum Verhältnis mit unserer grossen Nachbarin» hervor.

Das Rahmenabkommen in der vorliegenden Form wurde vom Bundesrat von der politischen Bühne gerissen. Die im Vademecum beleuchteten Themen dürften in jeder künftigen Verhandlung mit der EU im oder nahe am Mittelpunkt der Verhandlungen stehen. Ohne eine Diskussion und Verhandlung über die fortlaufende Angleichung im Marktzugangsrecht, über ein Streitbeilegungsverfahren, aber auch über die Anwendung der Unionsbürgerrichtlinie (UBRL), die Regeln über staatliche Beihilfen und die Ausgestaltung des Schweizer Lohnschutzes. Der Marktzugang und die dafür notwendige Zusammenarbeit bedürfen eines rechtssicheren Rahmens: kurzfristig zur Sicherung der Bilateralen, denn Status quo bedeutet Erosion, mittelfristig zur Sicherung neuer Bereiche wie Energieversorgung.

Chancen unterschätzt – Risiken überhöht

Verträge gilt es kritisch zu prüfen. Verhandeln ist stets ein Nehmen und Geben, auch bei Staatsverträgen. Souveränität ist erstrebens- und erhaltenswert, für Menschen, Unternehmen, Körperschaften und Staaten. Souveränität wird unterschiedlich gedeutet – von Autonomie über Selbstbestimmung bis zu Autarkie. Souveränität ist in einer vernetzten Welt nur im Verbund mit gegenseitigen Abhängigkeiten denkbar. Ob in der Energieversorgung, der militärischen Sicherheit, Migrationsfragen, der Geldpolitik oder aber banaler in Verkehrsfragen. Wirtschaftliche Souveränität bedingt Marktzugänge. Die Schweiz hat sich mit über 4’000 völkerrechtlichen Verträgen einen Platz in der Welt gesichert – und teilt damit Souveränität. Diese Abhängigkeiten bringen es mit sich, dass wahrgenommene, formelle Souveränität und tatsächliche, materielle Souveränität nicht immer deckungsgleich sind.

Ein vorab definiertes, geordnetes Streitschlichtungsverfahren und ein geklärtes Verfahren zur gegenseitigen Rechtsanpassung sind Chancen für einen Kleinstaat wie die Schweiz. Streitschlichtung und dynamische Rechtsübernahme gelten dabei für die fünf verhandelten Marktzugangsabkommen. Verträge ermöglichen gerade kleineren Staaten die Sicherung des Rechts vor der Macht des Stärkeren, sie setzen den Kleineren und damit zumeist den politisch Schwächeren im Streitfall auf dieselbe Ebene wie den Grösseren. Der Konflikt der frühen 2000er-Jahre um das Bankgeheimnis hat gerade der Schweiz und dem Bankenplatz die Macht des Stärkeren und die Grenzen der eigenen Souveränität deutlich vor Augen geführt: Das über Jahrzehnte von der Schweiz als hohes Gut des Schutzes der Privatsphäre stolz verteidigte Bankgeheimnis haben die USA in wenigen Wochen zu Fall gebracht.

Bedeutung der Bilateralen wird unterschätzt

Wir haben uns an die Bilateralen I und II gewöhnt. Die Vorteile – sehr wohl aber auch die Nachteile – sind im unternehmerischen, geschäftlichen, aber auch gesellschaftlichen Alltag zur Selbstverständlichkeit geworden. Ob im barrierefreien Reiseverkehr einschliesslich des üppigen Konsumtourismus in benachbarten Grenzstädten wie Konstanz und Bregenz, im dank dem Luftverkehrsabkommen tiefpreisigen und sicheren Flugverkehr oder dem Exportboom unserer Nationalspeise Käse – hier dank dem Landwirtschaftsabkommen. Die vier Grundfreiheiten der Europäischen Union – freier Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr – gelten in spürbaren Bereichen auch bei uns. Sie vereinfachen und verschönern unser Leben spürbar. Einen Zusammenhang mit den in über fünfzig Jahren gewachsenen Vertragsgrundlagen mit der EU zu erkennen ist unabdingbar. Dieser Zusammenhang wird zuweilen auch bewusst verdrängt. Der Rechtsbestand, der diese vielen Freiheiten, Vorteile und Annehmlichkeiten sichert, umfasst heute über 180 Verträge und geht damit weit über die Bilateralen I und II hinaus. Die Bilateralen sind aber nebst dem Freihandelsabkommen 1972 Basis und Exponent dieses Rechtsbestandes.

Die Kraft des MRA

Das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbestimmungen liest sich englisch flüssiger: Mutual Recognition Agreement (MRA). Für die produzierende Industrie ist es eines von drei Schlüsselabkommen der Bilateralen I. Das Abkommen befreit 20 Produktegruppen von zusätzlichen Konformitätsbewertungen in der EU. Konkret bedeutet dies, dass Exporteure in den 20 Produktekategorien bezüglich Produktezulassung, -bescheinigung und -zertifizierung in den 27 Ländern der EU den EU-Produzenten gleichgestellt sind. Diese administrativen, finanziellen und zeitlichen Erleichterungen für den Marktzugang sind enorm. Die Zertifizierung von Produkten ist dabei nur eine der eliminierten Handelshürden. Die fortschreitende Produktespezialisierung lässt nur mehr Produkte für grosse Märkte ertragsversprechend und kompetitiv zugleich entwickeln und produzieren – das bedingt aber eine einheitliche und gegenseitige Anerkennung von Produktestandards. Die Handelsstatistik zum MRA (Abbildung 1) zeigt die Bedeutung für die produzierende Industrie und das verarbeitende Gewerbe: Von CHF 109 Mrd. des Industriegüterexports in die EU profitieren 70 % vom nahezu schrankenlosen Marktzugang in die EU.

Handelsstatistik zum MRA zwischen der Schweiz und der EU-27 für das Jahr 2019

 

MRA-Kapitel

Import aus der EU-27 (in Mio. CHF)

Export in die EU-27 (in Mio. CHF)

1

Maschinen

11’860,1

11’354,0

2

Persönliche Schutzausrüstungen3

147,8

45,9

3

Spielzeuge

491,5

95,0

4

Medizinprodukte

3’216,4

5’527,3

5

Gasverbrauchseinrichtungen und Heizkessel

231,7

137,0

6

Druckgeräte

550,9

642,0

7

Funkanlagen und Telekommunikationsendgeräte

1’302,8

536,5

8

Geräte und Schutzsysteme zur Verwendung in explosionsgefährdeten Bereichen

800,5

829,8

9

Elektrische Betriebsmittel und elektromagnetische Verträglichkeit

3’265,3

2’729,0

11

Messgeräte und Fertigpackungen

1’405,4

2’399,6

12

Kraftfahrzeuge

11’224,3

1’679,7

13

Land- und forstwirtschaftliche Zugmaschinen

370,4

39,2

14

Gute Laborpraxis (GLP)

5’451,7

7’414,7

15

Inspektion der guten Herstellungspraxis und Arznei­mittel (GMP) und Zertifizierungen der Chargen

27’553,0

40’532,1

16

Bauprodukte

6’036,3

2’294,4

17

Aufzüge

587,9

240,7

18

Biozid-Produkte

45,2

96,5

19

Seilbahnen

29,9

1,6

20

Explosivstoffe für zivile Zwecke

28,9

29,1

Gesamtsumme MRA-Handel

74’600,6

76’625,1

Zum Vergleich: Gesamtsumme Industriegüterhandel mit der EU

121’744,2

109’655,9

 

 

Die Handelsstatistik zum MRA (Quelle: Handelsstatistik zum Abkommen der Schweiz und der EU über die gegenseitigfe Anerkennung von Konformitätsbewertungen [MRA])

Wie so oft wird der Wert eines Gutes erst richtig deutlich, wenn dieses abhandengekommen ist. Diesen Schmerz spüren die Schweizer Hersteller von Medizinalprodukten, kein Phantomschmerz notabene. Am 26. Mai 2021 – der Bundesrat hat wohl nicht ganz unwissend den Abbruch des InstA am selben Tag bekannt gegeben – ersetzt die neue europäische Medizinprodukteverordnung MDR die bisherige MDD, die Basis des vierten Kapitels des Abkommens über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbestimmungen. Mit der Nichtaktualisierung des vierten Kapitels haben die Schweizer Medizinalprodukte­hersteller ihren Binnenlandstatus in der EU verloren und gelten neu als Drittlandlieferanten. Die EU anerkennt demnach den Schweizer Standard nicht mehr als gleichwertig. Die Folgen sind beachtlich: Benennung eines Bevollmächtigten in der EU (EU REP), der für das Produkt haftet, und Neubeschriftung der Produkte. Was auf den ersten Blick als banal erscheint, ist in der Praxis mit massgeblichem Zeitverlust, Kosten und Agilitätsverlust verbunden, wie die Gründung von Tochtergesellschaften in der EU. Stellt sich die Frage: Warum soll ein Unternehmen in der Medizinalbranche unter diesen erschwerten Bedingungen und mit dem ohnehin hohen Lohnniveau weiterhin in der Schweiz produzieren und nicht gleich mit der ­eigens neu gegründeten Tochter ins grenznahe Ausland abwandern? Die vollständige Auslagerung von Logistik und Produktion ist damit einen Schritt näher gerückt, mitunter locken massgeblich tiefere Produktionskosten. Ein solches Szenario würde den Industrie- und Werkplatz Ostschweiz deutlich schwächen. Entsprechend gilt es, dieses mit vereinten Kräften zu verhindern.

Die MDR und das damit verbundene 5,5-Milliarden-CHF-Exportvolumen in einer hochinnovativen und wertschöpfungsintensiven Industrie mit 1’400 Betrieben und 63’000 Beschäftigten sind die ersten Opfer der Erosion der Bilateralen. Als Hochlohnland muss die Schweiz in innovativen Branchen führend sein und bleiben. Die eigene Position gerade in einer innovativen und zukunftsträchtigen Branche wie der Medizinaltechnik zu schwächen ist töricht. 19 weitere Kapitel des bilateralen Abkommens über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbestimmungen werden zwangsläufig in den nächsten Jahren er­neuert werden müssen. Zieht die EU nicht mit, droht weiteren Branchen der Verlust des Binnenmarktzugangs. Der Maschinenbau mit einem Exportvolumen von CHF 11,3 Mrd. könnte als nächste betroffen sein.

Das bilaterale Abkommen über die gegenseitige An­erkennung von Konformitätsbestimmungen ist für die Industrie und das produzierende Gewerbe überlebenswichtig.

Der Blick nach vorne

Der Handlungsdruck auf die Politik ist erst in Ansätzen spürbar, doch die Erosion der Bilateralen setzt ein. Der Bundesrat (BR) hat die von Parlament und Kantonen mandatierten Verhandlungen nach sieben Jahren abgebrochen. Der Bundesrat scheitert damit an seinem wichtigsten aussenpolitischen Ziel dieser Legislatur: Die Konsolidierung und Weiterentwicklung des bilateralen Wegs. Dies muss er nun korrigieren. Ein überzeugendes Konzept liegt nicht vor. Dies ist jetzt dringend nötig. Der BR ist in der Pflicht. Das Karussell der möglichen Ideen hat eingesetzt: von EU-Beitritt über EWR-Anschluss bis zu neuem Freihandelsabkommen im Sinne Grossbritanniens. Die Risiken und Nachteile dieser Alternativen zum bisherigen Königsweg der Bilateralen sind erheblich. Eine reine Dienstleistungsstrategie kann nicht im Interesse der Schweiz liegen.

Die Wirtschaft ist selbst auch gefordert: Deregulierungen einzufordern, Wettbewerb zu fördern und zu fordern, gerade auf dem in Teilen gut geschützten Binnenmarkt, sowie anzuerkennen, dass die Schweizer und gerade die Ostschweizer Wirtschaft unserem Land zu Vollbeschäftigung, Wohlstand und einer beachtlichen Krisenresistenz verholfen hat – dank einer Wirtschaftsvielfalt. Die Stimmen aus der Wirtschaft tun gut daran, eine Wirtschafts- und Aussenwirtschaftspolitik einzufordern, welche die bisherige Vielfalt der Wirtschaft weiter sichert und gedeihen lässt. Der Industrie und der Exportwirtschaft ist Sorge zu tragen – im Interesse aller. Denn unser Wohlstand in der Kernregion Ostschweiz hängt massgeblich davon ab.

 

Weitere Informationen finden Sie im IHK-Vademecum zum Verhältnis mit der EU: 

 

 

 

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