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Dynamik ausserhalb der Zentren

Megatrend Urbanisierung Dynamik ausserhalb der Zentren

Dr. Frank Bodmer, Leiter IHK-Research

Urbanisierung ist ein globaler Trend – die Städte erfreuen sich wieder grösserer Beliebtheit. Dieser Trend bedeutet allerdings nicht einfach, dass traditionelle Städte grösser werden. Bei den Metropolen wie New York oder London handelt es sich nämlich um die Kombination einer Vielzahl von Städten und Dörfern. Die Enge der traditionellen Innenstädte gibt weiter aussenliegenden Orten neue Entwicklungschancen, welche durch die Digitalisierung weiter zunehmen werden.

Die weltweit grösste Migrationswelle findet nicht von Süden nach Norden, sondern vom Land in die Städte statt. Heute leben nach Zahlen der Vereinigten Nationen bereits 55% der Bevölkerung in Städten; 2050 sollen es nach den Prognosen sogar 70% sein. Parallel dazu wächst die Zahl der Megastädte, der Städte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern, von denen es heute bereits 33 gibt. Die grösste ist Tokio mit rund 38 Millionen Einwohnern, New York hat 24 Millionen, London als grösste in Westeuropa rund 14 Millionen. Trotz der spektakulären Grösse dieser Megastädte lebt der überwiegende Teil der urbanen Bevölkerung aber nach wie vor in Städten mit weniger als 500 000 Einwohnern, was nach globalem Massstab als klein gilt.

Städte mit Vorteilen …

Angesichts der zitierten Zahlen ist es naheliegend, anzunehmen, dass die Zukunft den Städten gehören wird. Prominent vertreten wird diese Sicht vom amerikanischen Ökonomen Edward Glaeser in seinem Bestseller «Triumph of the City». Zentrale Eigenschaft von Städten ist die Nähe, das heisst die Konzentration von Ressourcen. Nähe wird vor allem dann zum Vorteil, wenn ein persönlicher und direkter Austausch wichtig ist. Forschung und der Austausch von Ideen, die Basis von Innovation und Wachstum, gehörten traditionell zu diesem Bereich. Damit hätten die grossen Städte eigentlich einen entscheidenden Vorteil gegenüber Vorstädten, kleineren Städten oder dem Land. In den Städten konzentriert sich zudem das kulturelle Angebot, ein weiteres Plus im Wettbewerb um Talente.

… und Nachteilen

Nähe erleichtert aber nicht nur den Austausch, Nähe schafft auch Probleme. Die alten Stadtzentren sind eng, der Verkehr fliesst nur zäh, es fehlen Naherholungsmöglichkeiten, eine schlechte Luftqualität und Kriminalität sind oft weitere Probleme. Mit anderen Worten: Es herrscht Dichtestress. Zudem erlauben die Städte im Prinzip zwar die Nähe von Arbeits- und Wohnort. In der Praxis ist die Zahl der Arbeitsplätze in den traditionellen Zentren aber um ein Vielfaches höher als die Zahl der Wohnungen. Es ist damit gar nicht möglich, dass alle Beschäftigten in der Stadt wohnen. Dazu kommen noch Schwierigkeiten im innerurbanen Verkehr. Dieser ist in der Regel langsam und überlastet, weshalb der Weg zur Arbeit innerhalb der Städte oft länger dauert als bei einer Anfahrt aus anderen Gemeinden und Städten.

Eine etwas andere Erklärung des Trends

Eine etwas genauere Betrachtung der Daten zeigt zudem nicht einfach den Sieg der Stadt, sondern ein differenzierteres Bild. Zwar haben einige Grossstädte in den letzten Jahrzehnten eine spektakuläre Renaissance erlebt, vor allem in Nordamerika. Mit der Motorisierungswelle nach Ende des Zweiten Weltkriegs durchliefen diese Städte einen langanhaltenden Niedergang. Personen mit hohen Einkommen zogen in die Vorstädte, die Innenstädte bluteten ökonomisch aus. Projekte zur Wiederbelebung der Innenstädte konnten diesen Trend vielerorts stoppen. Gutverdienende Personen, welche die Nähe zu kulturellen und kulinarischen Angeboten schätzen, ziehen wieder zurück in die Städte. Diese Gentrifizierung wird nicht überall gerne gesehen, werden doch oft die bisherigen Einwohner von den Kosten vertrieben. Im Vergleich zum Boom, welche neue Zentren erleben, bleibt dieser Aufschwung in absoluten Zahlen zudem bescheiden. Bei den zitierten Statistiken zum Wachstum der urbanen Bevölkerung wird nämlich nicht auf die alten Stadtgrenzen abgestellt. Vielmehr besteht eine Megastadt wie New York oder London aus einer Vielzahl von Städten und Gemeinden, welche zusammen die Metropole bilden.

«Technoburbs» als Rivalen der Grossstädte

Und auch beim vermeintlichen Kernvorteil, der Attraktivität für Kreative, liegen die alten Innenstädte oft im Rückstand. Die Lebenshaltungskosten sind gerade in denjenigen Städten sehr hoch, welche den Umschwung geschafft haben. Kreative ohne hohe Einkommen können sich diese Kosten vielfach nicht mehr leisten. Das betrifft nicht zuletzt Start-ups, welche am Anfang noch über keinen oder nur einen sehr bescheidenen Cashflow verfügen. Zudem bleiben viele der alten Probleme der Städte, Stichwort Dichtestress. Viele Kreative wohnen deshalb in suburbanen Wohngegenden und reisen täglich in die Stadt zur Arbeit. Oder sie arbeiten in neuen, suburbanen Zentren. In den USA haben sich aus diesen Gründen schon vor Jahrzehnten neue suburbane Zentren entwickelt, auch als «Edge Cities» oder «Technoburbs» bezeichnet. Bekanntestes dieser Technoburbs ist natürlich das Silicon Valley. Seit einigen Jahren können die Kreativen dank der Digitalisierung sogar dezentral arbeiten, sei es im «Home Office» oder in kleinen Bürogemeinschaften.

Die urbanen Eigenheiten der Schweiz

Die Schweiz findet sich beim Trend zur Urbanisierung in einer speziellen Situation. Sie weist als Staat weniger Einwohner aus als eine der globalen Megastädte. Innerhalb der Schweiz bestehen zwar wirtschaftliche Zentren wie Zürich, Basel oder Genf. Bereits am Genfersee besteht mit Lausanne aber noch ein zweites Zentrum. Dazu kommen viele andere mittlere und kleine Städte mit einer starken wirtschaftlichen Basis. Das dezentrale wirtschaftliche Muster ist für die Schweiz seit der Industrialisierung charakteristisch, der lokalen Verfügbarkeit von Wasserkraft und Rohstoffen folgend. Dazu kommen die kleinräumigen politischen Strukturen, mit einer starken Rolle von Kantonen und Gemeinden. Trotz dieser sehr dezentralen Ausgangslage hat die Schweiz seit 2012 mit dem «Raumkonzept Schweiz» ein Raumplanungsmodell, welches für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung vor allem auf die Metropolitanräume Zürich, Basel und Bassin Lémanique setzt. Es ist fraglich, ob solche aus der internationalen Diskussion übernommenen Konzepte für die kleinräumige Schweiz sinnvoll sind.¹ Und nach wie vor beschränkt sich die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz nicht nur auf die Zentren, sondern findet dezentral statt. Das ist insbesondere auch für die Ostschweiz wichtig.

Eine andere Urbanität als Zukunft

Die Ostschweiz kann nicht einfach als urban oder ländlich bezeichnet werden. Urban ist die Ostschweiz nur an wenigen Orten. Und trotz nach wie vor erheblicher Bedeutung der Landwirtschaft ist die Lebenserfahrung der überwiegenden Zahl der Ostschweizerinnen und Ostschweizer auch nicht ländlich. Sie arbeiten in Industrie und Dienstleistungen, in Firmen, von denen viele national oder gar global tätig sind. Wir bezeichnen die Ostschweiz deshalb als «softurbanen» Raum. Dieser unterscheidet sich von einem Zentrum wie Zürich in sieben zentralen Punkten (siehe Abbildung). Die Digitalisierung erhöht die Chancen und Möglichkeiten von softurbanen Räumen wie der Ostschweiz noch weiter. Dank der Digitalisierung entfällt die Notwendigkeit der physischen Nähe bei der Zusammenarbeit und beim Austausch von Ideen. Städte verlieren damit einen wichtigen Grund für ihre Existenz. Mit einem starken Selbstverständnis und einer Stärkung der digitalen Kompetenzen kann es der Ostschweiz deshalb gelingen, von diesem neuen globalen Trend zu profitieren.²


1  Kurt Weigelt, Zwangsabstieg der Ostschweiz in die Regionalliga? Die Zukunft der Schweiz baut auf starken Regionen, IHK-Standpunkt vom April 2011.
2  Das Phänomen Suburbia wird in seiner ganzen Vielfalt dokumentiert in: Alan Berger, Joel Kotkin und Celina Balderas Guzman (Hsg.), Infinite Suburbia, Princeton Architectural Press, 2017.

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