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Die Spitalpolitik muss in die Gegenwart

St. Galler Spitaldebatte Die Spitalpolitik muss in die Gegenwart

Markus Bänziger, IHK-Direktor

Ende 2019 präsentierte die St. Galler Regierung die Weiterentwicklung der Spital­strategie. Eine Konzentration von Spitalleistungen ist zur langfristigen Qualitäts­sicherung und Finanzierbarkeit unumgänglich – die Erfordernisse und Möglichkeiten der Gesundheitsversorgung veränderten sich in den letzten Jahrzehnten massiv. Aus rein regionaler Sicht ist Widerstand punktuell nachvollziehbar. Mit Blick auf den verfassungsgemässen Auftrag der Gesundheitsversorgung und die neuen Umstände schlägt die Regierung aber die richtigen Massnahmen vor.

Der 1. Januar 1891 war ein historischer Tag für die Gemeinde Walenstadt: Dank einer grosszügigen Spende des Industriellen Fridolin Huber eröffnete die Gemeinde ein eigenes Spital mit 35 Betten. In jener Zeit eine wichtige Errungenschaft. Denn das Kantonsspital St.Gallen, bis dahin für die Gesundheitsversorgung der Sarganser Bevölkerung eminent, war fern und mit den damaligen Transportmöglichkeiten nur schwer zu erreichen. Bemerkenswert ist, dass die Idee eines Spitals zunächst auf Widerstand in der Bevölkerung stiess – die Gemeindeversammlung des damals armen Walenstadt war um die hohen Folgekosten besorgt, die ein eigenes Spital verursachen würde. Erst als der Kanton einsprang, überwand die lokale Bevölkerung die finanziellen Bedenken. 
Das Gründungsdatum des Spitals Walenstadt ist typisch für die Ostschweizer Spitallandschaft. In der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eröffneten neben dem Kantonsspital in der Stadt St. Gallen auch neue Spitäler in Altstätten, Flawil, Wattwil, Grabs, Rorschach und Uznach. Die langen Transportwege des weitläufigen Kantons St. Gallen machten damals eine hohe Spitaldichte notwendig.

Hochwertiges, teures Gesundheitswesen

Die aufgezählten Spitalstandorte sind nicht zufällig gewählt – und bis heute erhalten. Doch während die St. Galler Spitallandschaft bis heute die Versorgungsstruktur des 19. Jahrhunderts nachzeichnet, haben sich die ursprünglichen Bedenken über die Kostenfolgen der Spitalpolitik verflüchtigt: Seit die St. Galler Regierung im Oktober 2019 die Weiterentwicklung der Spitalstrategie vorstellte (siehe Box), häufte sich die Kritik an der dringend notwendigen Leistungskonzentration. Diese Kritik kommt wenig überraschend vor allem von regionalpolitischer Seite. Sie blendet qualitative Anforderungen und finanzielle Tragbarkeit einer zukunftsgerichteten medizinischen Versorgung auf kantonaler Ebene aus und fordert, die geografische Wahl der St. Galler Spitalstandorte aus dem 19. Jahrhundert beizubehalten. Dabei ist die Realität in der medizinischen Versorgung der Gegenwart eine ganz andere: Heute ersetzen Rettungswagen auf einem fein verästelten Strassennetz oder Helikopter die Pferdekutschen der Gründungszeit der Spitäler. Transportwege haben sich von Stunden auf Minuten reduziert. Die moderne Medizin ist hochspezialisiert und fähig, äusserst komplexe Krankheiten zu heilen. Das Schweizer Gesundheitswesen ist heute weltweit eines der qualitativ hochwertigsten – eine grossartige Errungenschaft. Doch sie hat ihren Preis.
Das Schweizer Gesundheitswesen ist eines der teuersten. 12,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts betragen die Ausgaben fürs Gesundheitswesen – Tendenz steigend. Nur die USA überflügeln die Schweiz innerhalb der OECD-Länder. So hält die OECD in einem Vergleich fest, dass die Qualität des Schweizer Gesundheitssystems zwar hervorragend ist, aber andere Staaten vergleichbare Standards zu tieferen Kosten bieten.

Qualitative Gesundheitsversorgung sichern

Das St. Galler Stimmvolk verpflichtet die Politik in Artikel 15 der Kantonsverfassung zu einem klaren Staatsauftrag, wonach «die Bevölkerung zu den für sie tragbaren Bedingungen eine ausreichende Gesundheitsversorgung erhält». Unter ausreichender Gesundheitsversorgung darf, erstens, Qualität als prioritäres Merkmal verstanden werden. Sie soll sich am Patienten- und Gesellschaftsnutzen messen. Eine besondere Herausforderung dabei ist die alternde Bevölkerung. Sie führt zusehends zu einem Anstieg an komplexen, multiplen und chronischen Krankheitsbildern. Der technologische und medizinische Fortschritt bringt zwar die Mittel, um dieser Herausforderung zu begegnen. Er geht aber unweigerlich mit einer weiterschreitenden Spezialisierung und Segmentierung der medizinischen Versorgung einher. Dieser Trend akzentuiert den ohnehin vorherrschenden Fachkräftemangel in der medizinischen Leistungserbringung: Fachkräfte konzen­trieren sich auf immer kleinere, spezialisierte Teilbereiche der Medizin. Kleinere Regionalspitäler spüren den Kampf um die besten Fachkräfte bereits heute besonders ausgeprägt in den Kerndisziplinen der Medizin und Pflege.
Es muss das Ziel einer zukunftsgerichteten Gesundheitsversorgung sein, möglichst viele Spezialisten an einem Standort zusammenzubringen, um somit eine vollumfassende Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Ein entscheidender Indikator zur Qualitätssicherung sind Fallzahlen: Ein Spital, dessen Spezialisten jährlich Dutzende oder gar Hunderte Patienten behandeln, tut dies zwangsläufig zuverlässiger als eines, das im selben Zeitraum nur einige wenige behandelt. Der Wohlstands- und Wohlfahrtsfortschritt unserer Gesellschaft lässt zudem die Anspruchshaltung an die medizinische Versorgung und somit an die Kernleistung des Gesundheitswesens ansteigen.
Eine Leistungskonzentration ist notwendig, um die qualitative Versorgung langfristig zu sichern. Nur so lassen sich die Trends des demografischen Wandels, des Fachkräftemangels und der steigenden Anspruchshaltung bewältigen. Die Bevölkerung kann so besser von der fortschreitenden Spezialisierung der Medizin profitieren.

Spitalstrukturen als Kostentreiber

Zweitens sieht die Kantonsverfassung St. Gallens vor, dass die Gesundheitsversorgung zu tragbaren Bedingungen für die Bevölkerung bereitgestellt werden soll. Fest steht, dass die obligatorische Krankenkasse in der Schweiz den grössten Teil der Gesundheitsausgaben deckt, rund 35 Prozent. Seit Einführung der obligatorischen Krankengrundver­sicherung 1996 haben sich die Krankenkassenprämien im Durchschnitt und teuerungsbereinigt mehr als verdoppelt. Die Krankenkassenprämien bilden inzwischen eine der Hauptsorgen der Schweizer Bevölkerung. Bis weit in den Mittelstand hinein drücken sie massiv auf das verfügbare Einkommen der Haushalte. In St. Gallen ist bereits rund jeder und jede vierte Versicherte auf individuelle Prämienverbilligungen angewiesen – und somit also nicht in der Lage, diese Gesundheitskosten selbst zu decken. Unter diesen Umständen von tragbaren Bedingungen für die Bevölkerung zu sprechen, fällt zusehends schwerer. Verschiedene Faktoren treiben die Kosten des Gesundheitswesens, insbesondere die Spitalstruktur. Wie Frank Bodmer, Leiter IHK-Research, in seinem Artikel zur Spitalfinanzierung (Seite 14) darlegt, fliesst rund ein Drittel der Ausgaben im Gesundheitswesen in die Spitäler. Dabei stellt er fest, dass bereits die Art der Leistungsfinanzierung Fehlanreize setzt.
In einem weiteren Artikel zeigt Frank Bodmer, dass nicht nur die Leistungsabgeltungen Fehlanreize schaffen, sondern auch die Spitalstrukturen an sich: Viele kleine Spitäler sind mit kostenintensiven Überkapazitäten, Problemen bei der Rekrutierung des benötigten Fachpersonals und mit Abstrichen bei der Versorgungsqualität konfrontiert. Im grössten Kostenblock des Gesundheitswesens bestehen Überkapazitäten in der Ostschweiz – was den Finanzierungsbedarf zusätzlich erhöht. Wie teuer die Überkapazitäten den Kanton zu stehen kommen, wies der Verwaltungsrat der St. Galler Spitalverbunde bereits 2018 in einem Bericht aus: Ohne rasches Handeln würden die St. Galler Spitäler bereits innert weniger Jahre ein strukturelles Defizit von rund 70 Millionen Franken pro Jahr aufweisen. Grund dafür ist primär die hohe Spitaldichte mit neun Standorten. Höchste Zeit also, zu handeln! Allerdings nicht nur aufgrund der ausufernden Kosten, sondern primär aus Qualitätsüberlegungen.

Leistungskonzentration mit «4plus5»

Die vorgeschlagene Strategie der St. Galler Regierung «4plus5» ist ein wichtiger Schritt, um die Versorgungs­qualität aufrechtzuerhalten und den Kostendruck einzudämmen. Vier Spitäler mit einem stationären Angebot und fünf Gesundheits- und Notfallzentren lassen die Realität näher an den verfassungsmässigen Auftrag heranrücken.
Das Gesundheitswesen der Ostschweiz beschäftigt die IHK schon länger: Bereits mit der 2013 vorgestellten IHK-Studie «HFutura» zeigte sie auf, dass für eine nachhaltige Spitalstrategie eine Leistungskonzentration des Spitalangebots vonnöten ist. Diese Leistungskonzentration sollte mit einer besseren Kooperation über die Kantonsgrenzen hinaus einhergehen. Ein zukunftsgerichtetes Gesundheitssystem sollte sich an funktionalen und nicht an regionalen Kriterien ausrichten. So wurde das Konzept eines «Gesundheitskantons Ostschweiz» vorgestellt: Ein Gesundheits­system, das den funktionalen Anfordernissen der gesamten Ostschweiz über die Kantonsgrenzen hinaus entspricht. Genau vor einem Jahr griffen wir diese Idee in unserem Magazin IHKfacts wieder auf. In Anbetracht des sich abzeichnenden strukturellen Defizits der St. Galler Spitäler wurde dieser Vorschlag der IHK so aktuell wie noch nie.

Stossrichtung stimmt

Dass es notwendig ist, Spitalstandorte zu reduzieren, steht ausser Frage. Die Standortwahl der verbleibenden vier Mehrspartenspitäler erscheint für den Ringkanton St. Gallen sinnvoll. Mit vier Standorten ist der Zugang zu stationären Wahleingriffen weiterhin in zumutbarer Distanz möglich. Für Notfalldienste sind die neuen Notfallzentren und die mobilen Rettungseinheiten zuständig. Insgesamt ist der Zugang zu Leistungen für die St. Galler Bevölkerung weiterhin in der geforderten Qualität möglich. Dass die Strategie ein Schritt in die richtige Richtung ist, unterstützen auch Experten: Die Einschätzungen von Gesundheitsökonom Tilman Slembeck (Seite 16) und Jérôme Cosandey, Directeur romand und Forschungsleiter Finanzierbare Sozialpolitik bei Avenir Suisse (Seite 22), bestätigen dies.
Die Stossrichtung der Strategie der St. Galler Regierung ist also begrüssenswert. Auch wenn die von der IHK geforderte Zusammenarbeit mit den umliegenden Kantonen in der Strategie noch fehlt: Die Zustimmung zu dieser Vorlage und ihrer Umsetzung darf nicht auf ein Erreichen dieser noch fehlenden Zusammenarbeit warten. Zuerst muss Klarheit auf dem eigenen Kantonsgebiet geschaffen werden. Gleichzeitig ist die jüngst erfolgte Absichtserklärung zur kantonsübergreifenden Kooperation in Sachen Spitallisten ein erstes positives Signal hin zu einer vertieften ­Zusammenarbeit.

Reformen in der Spitalpolitik überfällig

Die Versorgungsqualität wird aufs Spiel gesetzt, wenn die überfälligen Reformen in der St. Galler Spitalpolitik weiterhin auf die lange Bank geschoben werden. Die Gesundheitsversorgung muss zudem finanzierbar bleiben – für den Staatshaushalt und die Bevölkerung. Ein Beispiel nehmen sollten wir uns nicht an den Spitalstrukturen des 19. Jahrhunderts, sondern an der damaligen Diskussion um die Folgekosten in Walenstadt. Ansonsten drohen uns nicht nur noch markantere Gesundheitsausgaben mit ­weiter steigenden Krankenkassenprämien, sondern auch Qualitätseinbussen. Zeit, dass wir unser Gesundheits­system auf die Zukunft ausrichten!
Die Gesundheitsversorgung muss sich am Patienten- und am Gesellschaftsnutzen orientieren. Dabei steht die medizinische Qualität der Leistungserbringung im Zentrum. Mit der Weiterentwicklung der Strategie der St. Galler Spitalverbunde zur Konzentration auf vier starke Spitalstandorte und fünf regionale Gesundheits- und Notfallzentren wird die Bedeutung der medizinischen Kernversorgung richtigerweise ins Zentrum gestellt. Die Grossregionen des Ostschweizer Ringkantons werden unverändert mit den geforderten Gesundheitsdienstleistungen versorgt. Damit die von den Patienten und damit von der Bevölkerung geforderte Qualität der medizinischen Leistungserbringung sichergestellt wird, ist eine Schwerpunktbildung die richtige Antwort auf den medizinisch-technischen Fortschritt, die alternde Gesellschaft und den Fachkräftemangel. Die heutigen Verkehrswege und Transportmöglichkeiten machen diesen Schritt glücklicherweise möglich.

Spitalstrategie «4plus5»

Im Oktober 2019 präsentierte der St. Galler Regierungsrat die in Zusammen­arbeit mit dem Verwaltungsrat der St. Galler Spitalverbunde erstellte «Weiterentwicklung der Spitalstrategie». Die neue Strategie sieht vor, die stationäre Gesundheitsversorgung auf die vier Standorte Grabs, Uznach, Wil und St. Gallen zu reduzieren, während an den verbleibenden bisherigen Spitalstandorten Altstätten, Rorschach, Flawil, Wattwil und Walenstadt regionale Gesundheits- und Notfallzentren (GNZ) entstehen. Die GNZ stellen die Notfallversorgung sowie stationäre Kurzaufenthalte mittels eines kleinen Bettenangebots sicher und ergänzen das Angebot der Hausärzte in den Regionen. Die Versorgung durch die Rettungsdienste bleibt unverändert: Diese müssen in 90 Prozent der Fälle innert 15 Minuten beim Patienten eintreffen. Zudem ist ein GNZ in der Regel in 20 Minuten, ein Spital in 30 Minuten für die Bevölkerung erreichbar.

Was kostet das Gesundheitswesen die Öffentlichkeit?

  • 82,5 Milliarden Franken fliessen jährlich ins Schweizer Gesundheitswesen, das entspricht monatlich 814 Franken pro Person.
  • 35,2 % der Gesamtausgaben fliessen ins Spitalwesen, den grössten Kostenträger.
  • 15,7 % der Gesamtausgaben decken die Kantone, neben der obligatorischen Krankenversicherung (35,8 %) und Selbstzahlungen der privaten Haushalte (28,6 %).
  • 573 Millionen Franken sind im Kanton St. Gallen für die Kantonsbeiträge bei den Hospitalisationen für 2020 ­budgetiert.
  • 266 Millionen Franken sind in St. Gallen 2020 für individuelle Prämienverbilligungen vorgesehen.
  • 2 445 Millionen Franken wird zum Vergleich in etwa der gesamte Fiskalertrag St. Gallens in diesem Zeitraum ­betragen.

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