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Die IHK als Thinktank

IHK-Vorschläge der letzten Jahre Die IHK als Thinktank

Dr. Kurt Weigelt, IHK-Direktor

Wir überschätzen immer die Veränderungen, die in den nächsten zwei Jahren eintreten werden, und unterschätzen diejenigen der nächsten zehn Jahre, so Bill Gates. In Ergänzung zum Tagesgeschäft befasst sich die IHK St.Gallen-Appenzell daher immer auch mit längerfristig angelegten Herausforderungen. Wir blicken zurück auf eine Auswahl der wichtigsten in den vergangenen Jahren bearbeiteten Themen.

Mehr Ostschweiz

Raumkonzept Schweiz

Das «Raumkonzept Schweiz» setzt für die wirtschaftliche Entwicklung auf die Metropolitanräume Zürich, Basel und Bassin Lémanique. In diesen Regionen sollen die internationale Ausstrahlung, die Wissensökonomie, konkurrenzfähige Lebensbedingungen für hochqualifizierte Beschäftigte und interna­tionale Verkehrsanbindungen konzentriert werden. Die Ostschweiz als klein- und mittelstädtischer Raum spielt im Raumkonzept Schweiz die Rolle als Vorzimmer des Metropolitanraums Zürich. Die IHK St.Gallen-Appenzell äusserte sich mehr als nur kritisch zum Raumkonzept Schweiz. Die Probleme überfüllter Züge und explodierender Mieten in den Zentren können nicht mit einem Raumkonzept gelöst werden, das die wirklich entscheidenden Veränderungen auf bereits heute überforderten Regionen konzentriert. Die Schweiz braucht keine weitere Zentralisierung, sondern starke Regionen. Eine Botschaft, die in der Zwischenzeit auch die Politik erreicht hat. Eine breite Allianz kämpft für eine Anerkennung der Ostschweiz als eigenständige Metropolitanregion.

 

Kernregion Ostschweiz

Das Bundesamt für Statistik definiert die Kantone Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden, Glarus, Graubünden, Schaffhausen, St.Gallen und Thurgau als Grossregion Ostschweiz. Mit der Ostschweizer Regierungskonferenz (ORK) verfügt diese über ein eigenes politisches Organ. Die politischen Interessen der einzelnen Kantone und deren wirtschaftlichen Verflechtungen sind jedoch zu unterschiedlich, um gemeinsame Positionen definieren und mit Nachdruck vertreten zu können. Die IHK St.Gallen-Appenzell erachtet es daher als sinnvoll, in Ergänzung zur Grossregion mit einer Kernregion Ostschweiz mit den beiden Appenzell, dem Thurgau und St.Gallen zu arbeiten. Im Standortwettbewerb geht es darum, den eigenen Lebensraum und nicht ein statistisch definiertes Gebilde zu stärken. Erfreulicherweise treffen sich heute die Regierungen der vier Kantone der Kernregion Ostschweiz periodisch zu einer gemeinsamen Aussprache, bei der die für alle relevanten Themen angesprochen werden.

 

Gesundheitskanton Ostschweiz und Spitalstudie HFutura

In der Kernregion Ostschweiz fallen die wirtschaftlichen und die politischen Handlungsräume in besonderem Masse auseinander. Dies führt zu Effizienz- und Effektivitätsverlusten. Es braucht neue Formen der Zusammenarbeit. Als einen visionären Weg hat die IHK St.Gallen-Appenzell die Gründung von Funktionskantonen als horizontale Elemente der Staatsorganisation vorgeschlagen. Funktionskantone halten sich nicht an Kantonsgrenzen. Unser Modell sieht beispielsweise einen Gesundheitskanton Ostschweiz als öffentlich-rechtliche Körperschaft mit einem eigenen Gesundheitsparlament und einer eigenen Gesundheitsdirektion vor. Es geht also nicht um die Privatisierung staatlicher Leistungen, sondern um Fragen der Finanzierbarkeit und der Qualitätssicherung. Dies gilt auch für den von uns präsentierten Bericht HFutura zur künftigen Spitallandschaft im Kanton St.Gallen. Die von uns vorgeschlagene Leistungskonzentration provozierte massiven Widerstand. In der Zwischenzeit hat der Verwaltungsrat der Spitalverbunde des Kantons St.Gallen eine Studie mit vergleichbaren Folgerungen präsentiert.

Mehr Kostenwahrheit

Tempotarif

Die Schweizer Bahnen werden zu knapp 60% über Steuern und Abgaben und nicht von den Kunden finanziert. Staatliche Leistungen, die individuell konsumiert und kollektiv finanziert werden, ziehen eine unbeschränkte Nachfrage nach sich. Überkonsum und Unterfinanzierung sind die zwingenden Folgen jeder staatlichen Umverteilung. Es braucht neue Finanzierungsmodelle. Die IHK St.Gallen-Appenzell hat vorgeschlagen, den Distanztarif durch eine zusätzliche Differenzierung nach der Geschwindigkeit einer Bahnverbindung zu ergänzen. Über den Tempotarif fliesst die Qualität einer Bahnverbindung in das Tarifsystem ein. Dies führt zu einer Entflechtung von Berufs- und Freizeitverkehr. Durch den Tempotarif werden regionale Ungleichheiten in der Verteilung der öffentlichen Gelder ausgeglichen. Bewohner von Regionen, die von Neubaustrecken profitieren, müssen höhere Kilometerpreise akzeptieren. Bei der Präsentation des Tempotarifs zeigte sich Ulrich Gygi, VR-Präsident SBB, sehr skeptisch. Wenige Monate nach unserer Veranstaltung offenbarte er jedoch in einem Interview im SonntagsBlick, dass künftig auch Passagiere in der Schweiz je nach Geschwindigkeit und Komfort Aufschläge zahlen müssen: «Ein Preis­unterschied von beispielsweise 20 Prozent ist je nach Geschwindigkeit durchaus möglich.»

 

Nachlaufende Studiengebühr

Einer steigenden Zahl an Studierenden stehen tendenziell stagnierende öffentliche Ausgaben für die tertiäre Bildung gegenüber. Die im internationalen Vergleich hohe Qualität unseres tertiären Bildungssystems kann nur mit einer grundlegenden Reform der Finanzierungsmechanismen gesichert werden. Unser Weg dazu führt über eine als nachlaufende Studiengebühr ausgestaltete Hochschul­abgabe. Die Absolventen der Hochschulen bezahlen nach Abschluss ihres Studiums eine Abgabe, deren Höhe sich nach der Anzahl der absolvierten Semester bemisst. Bei der Ver­anlagung und Bemessung der Hochschul­abgabe wird auf die direkte Bundessteuer abgestellt. Damit entfallen besondere adminis­trative Aufwendungen. Die Bildungslobby reagierte kopfschüttelnd auf unseren Vorschlag. Anders sah es in Online-Umfragen aus. Rund die Hälfte der Befragten unterstützte unsere Idee. Für viele Bürger ist nicht nachvollziehbar, weshalb ein Hochschulstudium massiv günstiger ist als die weiterführende Ausbildung nach einer Berufslehre.

Mehr Bildung

Berufsbildung 4.0

Die duale Berufsbildung geniesst in der Schweiz ein hohes Ansehen. Die ausser­ordentlichen Leistungen vieler Unternehmen sind ohne gut ausgebildete Berufsfachleute nicht denkbar. Der rasche Wandel in der Arbeitswelt geht jedoch nicht spurlos an unserer Berufsbildung vorüber. Arbeitswelt und Berufsfachschulen sind mit zwei unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs. Die IHK St.Gallen-Appenzell schlägt deshalb vor, die Berufsfachschulen künftig nach Kompetenzen und nicht länger nach geografischen Gesichtspunkten zu organisieren. Unser Ziel ist es, dass für jedes Berufsfeld eine eigene Berufsfachschule gebildet wird. Mit dem Umbau der Berufsfachschulen zu fachspezifischen Kompetenzzentren schaffen wir die Voraussetzungen, damit sich die einzelnen Profes­sional Schools entsprechend den Bedürfnissen und der Veränderungsgeschwindigkeit der jeweiligen Branche entwickeln können. Unser Ziel ist es, dass unsere Berufsfachschulen von der Öffentlichkeit auf Augenhöhe mit den Mittelschulen wahrgenommen werden.

 

Fachhochschule Ostschweiz

Die Fachhochschulen leisten einen wichtigen Beitrag zur Qualität des Schweizer Bildungssystems. Dies gilt auch für die vier Teilschulen der Fachhochschule Ostschweiz. Im Gegensatz zur übrigen Schweiz gelang es uns jedoch nach der Fachhochschul-Reform nicht, regionale Befindlichkeiten zu überwinden. Stattdessen kultivierte man den Sonderstatus jeder einzelnen Schule. Dies führte unter anderem zu einer ungenügenden Übereinstimmung von Ausbildungsangeboten und regionalem Arbeitsmarkt. Es besteht dringender Reformbedarf. Die FHO braucht ein einziges Rektorat und eine politische Führung, in der alle Ostschweizer Kantone und das Fürstentum Liechtenstein am gleichen Strick und vor allem in die gleiche Richtung ziehen. Dabei geht es nicht darum, alle Kompetenzen in einem Hauptquartier zusammenzufassen. Die neue Fachhochorganisation muss auf vorhandenen Kompetenzen aufbauen. Dazu gehören die heutigen Standorte und fachspezifischen Departemente. Nach jahrelangen Diskussionen ist die Reorganisation der FHO heute auf gutem Wege.

 

ETH Science City Wil

Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen der Schweiz sind das Ergebnis politischer Entscheidungen. So profitieren Zürich und Lausanne von den Investitionen des Bundes in den ETH-Bereich. Pro Einwohner erhalten Zürich und Waadt mehr als das Siebenfache an Bundesbeiträgen für die Hochschulbildung wie der Kanton St.Gallen. Mit Blick auf die gesamtschweizerische Entwicklung erachten wir es als notwendig, dass die räumliche Weiterentwicklung der ETH Zürich an einem neuen Standort ausserhalb der Stadt und der engeren Agglomeration Zürich stattfindet. Mit dem Areal Wil West steht ein Grundstück an bester Lage zur Verfügung, das die Voraussetzungen für einen zukunftsgerichteten Aufbau eines neuen Standortes für die ETH Zürich in jeder Beziehung erfüllt. Und dies nicht «in the middle of nowhere». Die Distanz von Zürich nach Wil entspricht ziemlich genau der Distanz von San Francisco nach Stanford. Unser Vorschlag wurde von der Politik nicht zur Kenntnis genommen. Im Gegensatz zur ETH. Diese will die Forschungs- und Technologiethemen des ETH-Bereichs in der Ostschweiz stärken.

 

Informatik-Offensive

Zukunft Ostschweiz, IT-Bildungsoffensive, HSG, Checkübergabe, Peter Spenger, Kurt Weigelt, Thomas BiegerGlobalisierung und Digitalisierung verändern die Welt. Erfolgreiche Standorte verfügen über technologische Kompetenzen. Ein Erfolgsfaktor ist die Qualität der Informatik-Ausbildung auf allen Schulstufen. Im Rahmen ihres 550-Jahr-Jubiläums lancierte die IHK St.Gallen-Appenzell eine Informatik-Offensive: Erstens unterstützten wir die Forderung nach der Einführung von Informatik-Mittelschulen. Weiter erachteten wir es als notwendig, dass die Ostschweizer Fachhochschulen zu einer standortunabhängigen Informatik-Strategie finden. Als dritte Massnahme finanzierten wir mit 200'000 Franken eine Konzept- und Machbarkeitsstudie zu einem neuen Studienschwerpunkt angewandte Informatik an der Universität St.Gallen. Unsere Vorschläge fanden bemerkenswert rasch politische Unterstützung und wurden durch Massnahmen zugunsten der Berufsfachschulen und der Pädagogischen Hochschule ergänzt. Bereits im kommenden Frühjahr kommt die IT-Bildungsoffensive des Kantons St.Gallen vor das Volk.

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