Staatspolitische Sicht Die ausserordentliche Lage regiert das Land
Die ausserordentliche Lage gemäss Epidemiengesetz, umgangssprachlich in den vergangenen Monaten oft auch als Notrecht bezeichnet, kann laut Artikel 185 der Bundesverfassung durch den Bundesrat zur Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit ausgerufen werden. Dieser Zustand erlaubt es der Landesregierung, rasch Verordnungen und Verfügungen zu erlassen, ohne diese zuvor dem Parlament vorlegen zu müssen. Der Bundesrat hat diese Rolle während der Corona-Pandemie wahrgenommen und auch in regelmässigen Abständen öffentlichkeitswirksam kommuniziert. Dabei kann generell der Eindruck entstehen, dass sich das Machtgefüge vom Parlament hin zur Landesregierung bewegt. Obwohl es in einer Krise äusserst eminent ist, eine klare Führung zu haben, erfährt das direktdemokratische Gewissen der Schweiz hier eine für manchen überraschende Neuordnung. Regiert der Bundesrat das Land in dieser Situation im Alleingang? Rasch wurden daher auch kritische Stimmen laut, welche den Umgang der Landesregierung mit der ausserordentlichen Lage infrage stellten.
Wirtschaftsfreiheit in der Krise
Verschiedene Staats- und Rechtswissenschaftler äusserten öffentlich ihre Zweifel daran, ob die Flut von Verordnungen den (verfassungs-)rechtlichen Grundlagen entspricht. So weisen beispielsweise Prof. Dr. Thomas Cottier und Prof. Jörg Paul Müller, beide Emeriti der Universität Bern, in ihrem NZZ-Gastkommentar «Die Grundrechte gelten auch in der Krise» auf die Wirtschaftsfreiheit hin. Die Gleichbehandlung von Wirtschaftsbetrieben (Art. 27, Art. 94) sollte auch in der ausserordentlichen Lage zugesichert bleiben, sofern sie die gesundheitspolizeilichen Vorschriften einhalten können. Diese Ausführungen lassen Zweifel aufkommen, ob eine Schliessung nach Geschäftsfeldern oder der Kategorisierung «lebensnotwendig» richtig war. Doch wer hätte dem Bundesrat in einer solchen Situation auf die Finger schauen können und müssen?
Die Rolle des Parlamentes
Wichtig ist zu erwähnen, dass in der ausserordentlichen Lage auch eine parallele Notverordnungskompetenz der Bundesversammlung besteht. Notverordnungen des Parlamentes sind im Gegensatz zu denjenigen des Bundesrates nicht auf den engen Zeitraum von sechs Monaten befristet. Die Bundesversammlung – notabene die demokratische Vertretung von Volk und Ständen – hätte also durchaus Handlungskompetenzen gehabt. Sie hat jedoch mit der vorzeitigen Beendigung der Frühlingssession die Führung in der Krise quasi an den Bundesrat «delegiert». Ein Kurzgutachten von Prof. Dr. Felix Uhlmann im Auftrag der Sozialdemokratischen Bundeshausfraktion kommt zu folgendem Schluss:
«Der Abbruch der Session durch die Ratsbüros ist rechtlich problematisch, weil die Räte nicht mehr eingreifen konnten. Selbst unter Berücksichtigung der besonderen Dringlichkeit bleibt fraglich, ob ein sofortiger Abbruch ohne jede Korrekturmöglichkeit wirklich geboten war.» (Uhlmann & Wilhelm, Kurzgutachten, Universität Zürich, S.19)
Ein offzielles Schreiben der Parlamentsdienste zuhanden der Staatspolitischen Kommission sichert der Bundesversammlung zudem das Recht zu, sich zu versammeln. Dies auch, wenn der Bundesrat ein Versammlungsverbot erlassen hat. In der kurzen Sondersession im Mai, die nur wenige Tage dauerte, konnte das Parlament die Entscheide des Bundesrates immerhin im Nachhinein diskutieren und gutheissen. Ob eine kritische Auseinandersetzung mit den Entscheiden wirklich möglich war, bleibt dahingestellt.
Verbände rücken in den Vordergrund
Auffallend war in den ersten Wochen der Corona-Krise, wie rasch sich die Parteipolitik aus dem Rampenlicht verabschiedet hat. Die sonst so konsequent ins Feld geführten Parteiprogramme rückten in den Hintergrund und unisono sprachen die Parteien dem Bundesrat ihre Unterstützung zu. Die Sicherheit und Gesundheit der Schweizer Bevölkerung standen zweifellos im Vordergrund, was absolut richtig und wichtig war. Schon bald zeichneten sich aber die grossen wirtschaftlichen Schäden sowie die unmittelbaren und wahrscheinlich auch langfristigen Folgen der ausserordentlichen Lage ab. Wirtschafts- und Branchenverbände machten mit grossem Engagement auf die Schwierigkeiten aufmerksam und entwickelten Konzepte, um der Krise künftig zu begegnen. Daraus resultierten einerseits Sicherheitsvorschriften für Branchen und andererseits Hinweise auf Rahmenbedingungen, auf welche die Unternehmen zur Bewältigung der Lage angewiesen sind. Diese Lösungsansätze direkt aus der Wirtschaft fanden bei der Landesregierung Gehör und bildeten die Basis für den Ausstieg aus dem Lockdown. Nachdem seit einigen Jahren der Einflussverlust der Interessenverbände zugunsten der politischen Parteien beschrieben wurde, vermochten die Verbände ihre «raison d’être» in der Krisenzeit wirkungsvoll zu bestätigen.
Es bleibt die Frage zu klären, wer denn nun in der ausserordentlichen Lage regiert. Grundsätzlich sind die gesetzlichen Grundlagen klar. Die Gewaltenteilung zwischen der Regierung und dem Parlament bleibt dabei bestehen. Ob das im Fall der Corona-Pandemie auch umgesetzt wurde, muss genauer erörtert werden. Wahrscheinlich hat das Parlament mit seinem Rückzug ein rasches und sachliches Krisenmanagement unterstützt. Von vielen Seiten wird die bundesrätliche Führung in der Krise als positiv und der Situation angepasst bewertet. Die Schweiz tut sicher gut daran, sich in Krisenzeiten an den Empfehlungen von Experten zu orientieren und Parteipolitik aussen vor zu lassen. Der Interessenvertretung, beispielsweise durch Wirtschaftsverbände wie die Industrie- und Handelskammern, ist gerade in einer ausserordentlichen Lage eine grosse Bedeutung zuzuschreiben. Sie verbinden Expertise im Fachbereich mit einem direkten Draht zu den Betroffenen und können so zu umsetzbaren Lösungen verhelfen.