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Corona und die Grundlagen unseres guten Lebens

Seuchen und Grenzen in der Geschichte Corona und die Grundlagen unseres guten Lebens

Christoph Frei

Dass wir heute mit grenzenloser Selbstverständlichkeit einen Arbeitsort im Ausland wählen, dass wir jeden Fleck der Welt bereisen, gehört mit zu den Errungenschaften offener Lebensräume. Global ausgreifende Mobilität ist uns ebenso zur Selbstverständlichkeit geworden wie Frieden und materielles Wohlergehen. Wo Dinge selbstverständlich sind, werden sie nicht hinterfragt. Wir fliegen, konsumieren und geniessen (oder reklamieren) mit höchsten Ansprüchen im Gepäck. Gleichzeitig leisten wir uns eine gewisse Oberflächlichkeit, mitunter auch Gleichgültigkeit im Umgang mit den komplexen Voraussetzungen unseres guten Lebens. Bis ein Virus kommt und stört. Vor diesem Hintergrund mag eine historische Relativierung vielleicht eher dienen als die tausendste Einschätzung der Auswirkungen von Corona auf das Bruttosozialprodukt.
 

Seuchen und Grenzen

Zu den als selbstverständlich wahrgenommenen Grundlagen unseres guten Lebens gehört zunächst ein Format sozialer Organisation, das vor 500 Jahren noch gar nicht existierte. Um die territorialen Überlappungen des mittelalterlichen Feudalismus zu überwinden, schieden frühmoderne Staaten autonome Räume ab. Zur Zeit der Pestepidemien im 14. Jahrhundert beschloss die Regierung der Republik Venedig, ankommende Schiffe während vierzig Tagen (quaranta giorni) vor dem Hafeneingang ausharren zu lassen. Bald schon fand das Prinzip der Quarantäne Nachahmung an anderen Orten. Seeleute und Händler wurden auf Inseln (isola) isoliert. Später durften Personen den Hafen nur passieren, wenn sie einen passaporto bei sich trugen – eine schriftliche Bestätigung dafür, dass sie pestfrei waren.

Quarantäne und Isolation, Bewegungskontrollen und Disziplinierungsmassnahmen: Die Ankunft von Corona im Frühjahr 2020 hat uns mit einem klassischen Instrumentarium vertraut gemacht – es ist alt, aber keineswegs veraltet. In der historischen Rückschau erweist sich die Seuchenpolitik in Venedig oder Ragusa geradezu als Katalysator für die konkrete Ausbildung der damals aufkommenden Differenzierung von Innen und Aussen. In der Konfrontation mit aggressiven Viren und Bakterien machen Regierungen auch heute reflexartig die Schotten dicht; die effektive Kontrolle (und Bewirtschaftung) von Grenzen gehört zu ihrem Kerngeschäft. Bewehrt mit einem Monopol physischer Gewaltsamkeit, kann der moderne Staat zwar zwingen, bleibt aber sozialverträglich eingebunden. In seinen Grenzen sorgt er für die Effektivität des Rechts. Er bietet Schutz und Zugehörigkeit. Nach aussen hin gibt ihm das völkerrechtliche Attribut der Souveränität Anspruch auf eine unsichtbare Mauer, auf Räume geschützter Autonomie.
 

Von minimalem Schutz zu maximaler Sicherheit

Territorial fixierte, souveräne Staatlichkeit, in ihren Anfängen eine genuin europäische Innovation, hat weltweit Schule gemacht. In unserer Zeit unterteilt sie 7,8 Milliarden Menschen in 194 souveräne Staaten. Unsicher ist und fraglich bleibt die Nachhaltigkeit dieses Modells in seiner gegenwärtigen Fortentwicklung. Unter dem Einfluss der Sozialdemokratie des 19. und 20. Jahrhunderts hat sich der schlanke Grundrechtsstaat des 19. Jahrhunderts in einen Leistungs- und Sozialstaat verwandelt, der nicht minimalen Schutz verheisst, sondern maximale Sicherheit. Auch in dieser Hinsicht bringen Corona-Pakete nicht Brüche, sondern Kontinuität: weiter steigende Staatsquoten, eine weiter wachsende Bereitschaft zur Verschuldung – und schliesslich eine «Privatwirtschaft», die etatistisch umrahmt und eingebettet bleibt. In einem Kapitalismus solcher Art entscheidet sich Erfolg und Misserfolg nicht mehr über Marktfähigkeit und Innovation, sondern über die effektivsten Verbindungen hinüber in die Politik. Risiken werden routinemässig auf das Kollektiv übertragen. Kaum ein Tag ohne milliardenschwere Hilfspakete: Wechsel auf eine unbekannte Zukunft, neue Spitzen auf himmelhohen Schuldentürmen. Werden sie jemals abgetragen, und von wem? Eigenverantwortung wird rituell beschworen, aber kaum mehr eingefordert. Am Ende sind alle «systemrelevant» – und trinken mit vom süssen Gift.
 

Verflechtung hat einen Preis

Zu den verinnerlichten Grundlagen unseres guten oder süssen Lebens gehören nicht nur ausgebaute Leistungsstaaten, sondern auch offene Handels-, Kommunikations- und Lebensräume. «Globalisierung» ist ein junges und unscharfes Wort für ein ziemlich altes Phänomen. Gemeint ist der historische Prozess einer fortgesetzten Relativierung von Grenzen durch die Verbindung von Räumen und den Aufbau verstetigter Interaktion. Wegmarken der jüngeren Globalisierungsgeschichte führen von der ersten Weltumsegelung über das Dampfschiff zum Flugzeug, von der Telegraphie ins Internet. Nichts hat die vormals dicken Mauern territorial fixierter Staaten im 20. Jahrhundert so nachhaltig durchlöchert wie der schrittweise Abbau von Zöllen. Das steigert Kaufkraft und Wohlstand, verschiebt aber gleichzeitig tektonische Platten: Globale Wirtschafts- und Gesellschaftsräume einerseits, souveräne Staatenräume anderseits sind nicht mehr deckungsgleich. Und längst sind Staaten nicht mehr autonom. Der Wohlstand der Schweiz verdankt sich in guten Teilen einer liberalen Welthandelsordnung, deren Fortbestand so wenig in unseren Händen liegt wie ihre ursprüngliche Grundlegung nach dem Zweiten Weltkrieg. Den Globalisierungsstandort Schweiz zu behaupten, wird Kompromissbereitschaft voraussetzen, viel Realismus – und den Willen, Realitäten dem Volk zu vermitteln.

Corona bedeutet mitnichten das Ende der Globalisierung. Vielmehr ist der Gang des Virus selber Ausdruck einer ökonomischen und sozialen Verflechtung, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Aber ja doch: Diese Verflechtung hat ihren Preis. Sollte die Pandemie dauerhaft unser Bewusstsein dafür schärfen, dass entgrenzte Wertschöpfungsketten mannigfache Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten mit sich bringen, wäre etwas gewonnen. Ob das trendige Wort von der Rückverlagerung oder Renationalisierung «lebenswichtiger» Produktionen auch konkrete Resultate zeitigen wird, steht allerdings zu bezweifeln. Wären wir schon als Konsumentinnen und Konsumenten bereit, fortan auf die Nutzung komparativer Kostenvorteile zu verzichten und den Preis dafür zu zahlen? Plausibler scheint zumindest in mittlerer Frist die geographische Diversifikation von Fertigungsketten.
 

Wie gut sind wir aufgestellt?

Staatenräume und Wirtschaftsräume, Offenheit und Grenzen: welche Balance, welche Form der Steuerung, welche Institutionen? Tatsache ist, dass die funktionale Leistungsfähigkeit souveräner Staaten vorerst unerreichbar bleibt: Die Corona-Massnahmen geben ein gutes Beispiel. Tatsache ist aber auch, dass die politische Fragmentierung der Welt je länger, desto weniger wird funktional genügen können. Nukleare Proliferation, Klimawandel, natürliche Ressourcen, Cyberkrieg, aggressive Viren und Bakterien: Wie lange noch werden adäquate Lösungen für global übergreifende Problemlagen auf sich warten lassen? Und präziser: Wie lange noch werden institutionelle Voraussetzungen für solche Lösungen an einzelstaatlichen Widerständen scheitern?


Christoph Frei ist Professor für Staats- und Politikwissenschaften an der Universität St.Gallen. Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen Internationale Beziehungen, Politische Ideengeschichte sowie beim politischen System Frankreichs.

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