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Agieren statt reagieren

Wirtschaftspolitik: Ein Rück- und Ausblick Agieren statt reagieren

Markus Bänziger, IHK-Direktor

Die Pandemiebekämpfung dominiert die politische Tagesordnung. Anders als allseits erhofft dürfte dies auch im angebrochenen Jahr noch einige Monate anhalten. Zahl­reiche andere Herausforderungen stehen aber bereits an. Es muss gelingen, trotz dem unbestritten jetzt zu führenden Kampf um die Kontrolle der Pandemie politische Energie freizusetzen, damit dringend anstehende, aber verdrängte, die Zukunft gestaltende Themen vorangetrieben werden können.

2020 war mehr als ein absonderliches Jahr – und bereits zeichnet sich ab, dass dieses Jahr nicht weniger aussergewöhnlich werden könnte. Der Weg zurück in die Normalität dürfte steiniger sein als bisher angenommen und vor allem erhofft: Kaum zeichnen sich durch die Impfstoffe erste Hoffnungen auf eine Eindämmung der Pandemie ab, erhöhen Virusmutationen die Unsicherheit und lassen eine Krise in der Krise befürchten.

Zurück in eine aktive Position

Letztes Jahr zwangen uns sowohl vorhersehbare als auch unvorhersehbare Ereignisse dazu, zu reagieren. Die Pandemie forderte alle Bereiche der Gesellschaft heraus. Die Wirtschaft sah sich nahezu täglich mit ändernden Realitäten konfrontiert. Doch auch in übergreifenden, politischen und gesellschaftlichen Debatten musste zunächst reagiert werden: Die Konzernverantwortungsinitiative stellte das Vertrauensverhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft auf die Probe, die Kündigungsinitiative jenes zwischen der Schweiz und Europa, während die Spitaldebatte in den Ostschweizer Kantonen die Beziehungen in und vor allem zwischen den Regionen strapazierte. In allen Bereichen gelang es zuletzt, die erwünschte Entwicklung zu erzielen. Dennoch nahmen die Wirtschaft und mit ihr die IHK vor allem eine reagierende Position ein – korrigierend, nachschärfend, verteidigend. Aktive Zukunftsgestaltung sieht anders aus.

Dieses Jahr wird die grösste Herausforderung sein, sich aus dieser reaktiven Position zu lösen und eine aktivere Rolle einzunehmen. Aktiv heisst: Die Zukunft so mitgestalten, dass der Wirtschaftsraum Ostschweiz gegenwärtige und vor allem auch künftige Herausforderungen zuverlässig meistern und sich im Wettbewerb der Regionen behaupten kann. Denn zu wichtig sind einige Dossiers, als dass sie nochmals ein Jahr beiseitegelegt werden dürften. Die Pandemie stellt nicht nur an sich eine Herausforderung dar, sondern akzentuiert die Unsicherheit in Dossiers, in denen wir bereits vor Corona weitreichende Entscheidungen aufgeschoben haben. Dies zeigt ein kurzer, keineswegs abschliessender Überblick über einige Themen, mit denen die IHK sich dieses Jahr besonders auseinandersetzen wird.

Wie steht die Schweiz zu Europa?

Auch im Europadossier agierte die Schweiz und allen voran der Bundesrat zögerlich. Das Stimmvolk hat die Kündigungsinitiative deutlich abgelehnt und damit einen Frontalangriff auf eine entscheidende Errungenschaft der Schweizer Aussenpolitik und Grundlage für die erfolgreiche Schweizer Exportwirtschaft abgewehrt: die bilateralen Verträge mit der Europäischen Union. Trotz der erneuten Bestätigung des bilateralen Wegs durch den Schweizer Souverän bleibt die Zukunft eines rechtssicheren Verhältnisses mit der EU weiterhin in der Schwebe.

Klarheit kann und soll ein institutionelles Abkommen schaffen. Die IHK St. Gallen-Appenzell verrichtete deshalb zusammen mit der IHK Thurgau eine umfassende Positionierungsarbeit. Wir sind davon überzeugt: Das vorliegende Abkommen – mit den vom Bundesrat angestrebten Nachschärfungen bei den staatlichen Beihilfen sowie der Unionsbürgerrichtlinie – stellt die beste verfügbare Variante dar. Verträge entstehen in Verhandlungen: Man nimmt – man gibt. Die vorliegenden Alternativen zeigen deutlich mehr Nachteile: das Verharren im Status quo und die damit verbundene Erosion der bilateralen Verträge, der Rückfall auf das Freihandelsabkommen von 1972 oder die Verhandlung eines neuen, solitären Freihandelsabkommens. Entscheidend ist, dass das Verhältnis zu unserer wichtigsten Nachbarin jetzt innenpolitisch breit und undogmatisch diskutiert und damit geklärt wird. Die Grundlagen liegen bereit, wir leisten unseren Beitrag dazu mit der Veranstaltungsreihe «Dialog».

Bundesbern verhält sich nach wie vor zögerlich mit einer klaren Positionierung zu diesen Beziehungen. Der Ball in den Verhandlungen mit der EU liegt bei der Schweiz. Die Hoffnungen auf Erfolge bei den Nachschärfungen oder gar Zugewinne bei der Erschliessung neuer Positionen wie bei der Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Auslegung von Begriffen des EU-Rechts ruhen auf der neu eingesetzten Chefunterhändlerin Frau Botschafterin Livia Leu Agosti: Die fünfte Verhandlungsführerin beim Rahmenabkommen seit 2015. Der Bundesrat muss nun endlich Klarheit schaffen und die Weichen für die zukünftigen Beziehungen stellen.

Zunehmendes Misstrauen gegenüber Wirtschaft

Griff die Kündigungsinitiative die Handelsbeziehungen zur EU an, so stellte eine weitere Initiative nur wenige Monate später das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Gesellschaft infrage: Die Konzernverantwortungsinitiative war nicht nur durch einen der wohl emotionalsten Abstimmungskämpfe der vergangenen Jahre gekennzeichnet. Vielmehr offenbarte sie eine tieferliegende Polarisierung, welche zunehmend auch in der Schweizer Gesellschaft Fuss fasst: Vertreter eines starken Wirtschaftsstandorts und einer in der globalisierten Welt eingebundenen Schweiz stehen Kreisen gegenüber, in denen die Wirtschaft und die Globalisierung als Wurzel allen Übels verortet wird. Ähnliches ist im Zuge der Pandemie zu beobachten: Nur zu gerne wird ein Gegensatz zwischen wirtschaftlichen und gesundheitlichen – oder gar im weiteren Sinne gesellschaftlichen – Interessen konstruiert. Ganz allgemein zeichnet sich also eine Tendenz ab, welche die Wirtschaft als Teil des Problems, nicht der Lösung wahrnimmt.

Wie kann dieser Entwicklung entgegengewirkt werden? Nicht nur als Wirtschaftsverband, sondern besonders auch als Wirtschaftsvertreter sind wir gefordert. Wir müssen wieder stärker für politische Themen einstehen. Das Misstrauen in der Gesellschaft muss ernst genommen, Vertrauen wiederhergestellt werden. Dies bedeutet nicht zuletzt, als Unternehmen unsere Verantwortung wahrzunehmen und aufzuzeigen, dass wir dies auch ohne staatlichen Zwang können. Dieses Begriffspaar – Vertrauen und Verantwortung – war sodann auch die Grundlage des diesjährigen IHK-Jahresauftakts (vgl. Textbox).

Strukturbereinigung im Gesundheitswesen

Nicht nur auf nationaler Ebene, auch in der Ostschweiz sind wir weiterhin gefordert. Erfreulich ist, dass im vergangenen Jahr bei einem der emotionalsten Dossiers – der Spitallandschaft – einige Schritte hin zur Sicherung einer die hohen Qualitätsanforderungen der Bevölkerung erfüllenden und gleichzeitig effizienten, überregionalen und damit finanzierbaren Struktur gemacht werden konnten. Im Kanton St. Gallen hat der Kantonsrat der Vorlage zur Strukturbereinigung mit aller Deutlichkeit zugestimmt. Die Standeskommission in Innerrhoden stoppte vorerst den geplanten Spitalneubau. Auch in Ausserrhoden wird inzwischen die Debatte über die deutlichen Überkapazitäten in der Region geführt. Lobenswert und erfreulich ist für die Kernregion Ostschweiz, dass die Schritte zu einer zukunftsfähigen Gesundheitsversorgung trotz der Pandemie unternommen wurden. Die Unsicherheit im Umgang mit dem Virus führte nicht zu einer weiteren Emotionalisierung der Debatte. Gerade die IHK hat dabei vermehrt darauf hingewiesen, dass die Pandemie keinen Einfluss auf die längerfristige Spitalplanung haben soll. In den zu erwartenden Referenden dürften Debatten um den Erhalt der bekannten, aber veralteten Strukturen neu aufflammen. Die Konsolidierung der auf die Möglichkeiten und Bedürfnisse des 19. Jahrhunderts zurückgehenden Ostschweizer Spitalstrukturen muss erfolgen, um neuen Ideen Platz zu machen, welche Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts geben.

Doch alle diese kantonsinternen Strukturbereinigungen sind schliesslich nur der erste Schritt zu einem nächsten Ziel: einer über unseren Lebensraum – die Kernregion Ostschweiz – koordinierten Gesundheitsversorgung. Hier konnte mit der Absichtserklärung der Ostschweizer Kantone, in Zukunft die Spitallisten in der Region zu koordinieren, ein erstes Fundament gelegt werden. Dabei muss jedoch bewusst bleiben: Die wahre Herausforderung liegt darin, ein koordiniertes, überregionales Gesundheits­system im föderalistischen Raum Ostschweiz aufzubauen und somit das politische Bekenntnis konsequent umzusetzen.

Standortförderung für eine erfolgreiche ­Zukunft

Dennoch gibt es sie, die neuen zukunftsgerichteten Projekte der Ostschweiz, welche Lösungsansätze für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bereithalten. Der Innovationspark Ost hat die wichtige Hürde durch die Zustimmung des Stiftungsrates von Switzerland Innovation genommen. Die drei Leuchttürme NTB Buchs, HSR Rapperswil und FHS St. Gallen sind institutionell und rechtlich zur Fachhochschule OST unter einheitlicher Führung vereint. Der Metropolitanraum Bodensee wurde in Form einer Charta aus der Taufe gehoben. Drei zukunftsgerichtete Projekte, die dank fundierter vertrauensvoller Zusammenarbeit unter den Kantonen sowie teilweise mit den Nachbarn entwickelt wurden, nehmen Gestalt an. Drei Projekte, die für eine hoffnungsvolle Entwicklung der Kernregion Ostschweiz und deren eng verbundenen Nachbarländer und Bundesländer so notwendig wie entscheidend sein werden. Die politischen Hürden sind genommen, es gilt nun die Projekte erfolgreich ins Ziel zu führen – für das übergeordnete Ziel, die Vision eines gemeinsamen Lebens- und Wirtschaftsraums.

2021 haben wir es in der Hand: Weiter zu reagieren oder das Zepter in die Hand zu nehmen und aktiv voranzugehen. Die Bewältigung der Pandemie steht nach wie vor an erster Stelle. Sie verstärkt jedoch auch die bereits bestehenden Herausforderungen – es ist zentral, diese nicht aus den Augen zu verlieren.

Vertrauen und Verantwortung

Nachhaltiges Unternehmertum ist ohne Vertrauen nicht möglich. Der politische Diskurs um die Konzernverantwortungsinitiative hat uns gezeigt, dass das gesellschaftliche Vertrauen in die Unternehmen stark gelitten hat. In diesem Kontext stellt sich auch die Frage: Glauben wir noch an den Freihandel? Glauben wir noch daran, Güter zu tauschen, den komparativen Vorteil zu nutzen und dadurch Wohlstandsgewinne zu generieren? Wohl wahr, der Freihandel kann auch Schattenseiten haben. Unternehmen für sämtliche dieser negativen Begleiterscheinungen verantwortlich zu machen, entbehrt jedoch jeglicher Grundlage. Die Gesellschaft und die Wirtschaft stehen gleichermassen in der Verantwortung. Gemeinsam müssen wir den Weg in die Zukunft ebnen, mit Respekt vor künftigen Generationen. Unsere Freiheit endet dort, wo die Freiheit anderer Generationen Schaden nimmt. Es kann nicht sein, dass wir zulasten jüngerer Generationen leben: Freiheit und Verantwortung sind Kehrseiten der gleichen Medaille.

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