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1930 als warnendes Beispiel

Ein Blick in die Vergangenheit des Protektionismus 1930 als warnendes Beispiel

Dr. Kurt Weigelt, Direktor IHK

Seit jeher wird der freie Handel durch politische Grenzen und häufig auch durch hausgemachte Vorschriften bedroht. Als im 18. Jahrhundert die Baumwolle die St.Galler Leinwand unter Druck setzte, wurde der Strukturwandel mit protektionistischen Massnahmen zu verhindern versucht. Nach dem Ausbruch der Wirtschaftskrise 1929 führten die USA und danach weitere Länder Zölle für ausländische Produkte ein. Innert Kürze brach der Welthandel zusammen und mündete in den Zweiten Weltkrieg. Protektionismus war und ist kein erfolgsversprechendes Rezept.

Als Gallus im Jahre 612 einen Ort der Stille suchte, fand er diesen im Hochtal der Steinach. Aus der einfachen Klause am Ende der Welt entwickelte sich das Kloster, das im 9. Jahrhundert seine erste grosse Blüte erlebte. Gleichzeitig entwickelte sich rund um das Kloster ein Handels- und Wirtschaftszentrum. Als Stadt, die sich aus wirtschaftlicher Sicht an einem unmöglichen Ort befand, waren der Entwicklung jedoch Grenzen gesetzt. Überwunden wurden diese mit dem Fernhandel. Bereits 1262 tauchte ein St.Galler Kaufmann in den Büchern Genuas auf. Nicht anders als heute die Exportwirtschaft waren die Fernhändler auf sichere Verkehrswege und offene Grenzen angewiesen. Von besonderer Bedeutung für den Ostschweizer Leinwandhandel war der nach der Niederlage von Mari­gnano abgeschlossene Friedensvertrag zwischen Frankreich und der Eidgenossenschaft. Der «Ewige Frieden» von 1516 erneuerte eine Reihe wichtiger handelspolitischer Privilegien der Eidgenossen und ihrer zugewandten Orte in der Messestadt Lyon und räumte gegenseitig den freien Handel ein. Auch wenn diese Zoll- und Steuerfreiheit immer wieder unter Druck kam, so waren es doch diese offenen Grenzen, die bis ins 18. Jahrhundert den Wohlstand der Ostschweizer sicherten.

Versuch, den Strukturwandel zu verhindern

Seit jeher wird der freie Handel nicht nur durch politische Grenzen bedroht. Immer waren es auch hausgemachte Vorschriften, die den Warenverkehr behinderten. Als im 18. Jahrhundert die Baumwolle die St.Galler Leinwand unter Druck setzte, versuchte der Rat der Stadt St.Gallen den Strukturwandel mit politischen Massnahmen zu verhindern. Man setzte alles daran, abgeschirmt von äusserer Konkurrenz arbeiten zu können. Die ersten Unternehmer, die im Baumwollgewerbe fabrizierten, zwang man, der Zunft der Leinwandweber beizutreten. Um Baumwollartikel künstlich zu verteuern, wurden diese mit den für die Leinwandproduktion üblichen Abgaben belastet. Als der Rat im Februar 1785 eine neue, zunftfreundliche und protektionistische «Zoll-Tabelle» bekanntgab, verfasste das Kaufmännische Direktorium, die Vorgänger-Organisation der IHK St.Gallen-Appenzell, eine für die damalige Zeit revolutionäre und auch heute noch wegweisende Stellungnahme: «Es ist ein allgemeiner und unwidersprechlicher kaufmännischer Grundsatz: Je weniger der Handel an einem Ort durch Gesetze und Einschränkungen behindert wird, je grösser der Zusammenfluss von Waren und die Anzahl der Käufer und Verkäufer ist, desto blühender wird auch der Handel selbst sein.»

Die Stickereiblüte und der US-Markt

Trotz politischer Abwehrmassnahmen liess sich der Strukturwandel an den Stadtmauern nicht aufhalten. Die Handstickerei entwickelte sich rasch und beschäftigte bald einmal Zehntausende von Heimarbeiterinnen. Nach 1865, also rund hundert Jahre später, löste die Verbesserung der Handstickmaschine und die Erfindung der Schifflistick­maschine einen kometenhaften Aufstieg der St. Galler Stickerei aus. Sie wurde vorübergehend zum wichtigsten ­Exportprodukt und die Ostschweiz zu einer der wohlhabendsten Regionen der Schweiz. Von entscheidender Bedeutung war dabei die nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges einsetzende Freihandelspolitik. Die Ostschweiz internationalisierte sich im wahrsten Sinne des Wortes. Amerika und die Commonwealth-Staaten waren die wichtigsten Exportländer. Amerikanische Firmen besassen in St.Gallen eigene Niederlassungen. Die Geschäftshäuser aus jener Zeit heissen «Atlantic», «Oceanic» und «Washington». Wer nach dem Lehrabschluss als Sohn eines Geschäftsmanns Gelegenheit hatte, ein Praktikum im Ausland anzuschliessen, bevorzugte Paris, London oder New York. Für heimkehrende «Yankees» gehörte es zum guten Ton, Englisch mit einem leicht näselnden amerikanischen Akzent zu sprechen.

Amerikanischer Protektionismus

Dieser Höhenflug endete mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Nachfrage nach Luxusprodukten brach schlagartig ein, die Freihandelszonen existierten faktisch nicht mehr. Nach Ende des Krieges liess der Wiederaufbau in den Kriegsländern die Nachfrage kurzfristig wieder steigern, viele hofften auf Besserung. Die im Herbst 1929 ausbrechende allgemeine Wirtschaftskrise machte aber diese Hoffnungen schlagartig zunichte. Am 17. Juni 1930 trat in den USA der Smoot-Hawley Tariff Act in Kraft. Mit diesem wollte der damalige Präsidentschaftskandidat Herbert Hoover die amerikanischen Farmer vor ausländischer Konkurrenz schützen. Tatsächlich war der Gesetzesentwurf zunächst auf die Landwirtschaft ausgerichtet. Doch zum Schluss wurden die US-amerikanischen Zölle für über 20 000 Produkte auf bis zu 60 % angehoben. Selbst eine Petition von mehr als 1000 Wissenschaftlern, das Vorhaben zu stoppen, half nichts. Der siegreiche Hoover setzte sein Wahlversprechen um. Andere Länder zogen nach. Binnen weniger Monate brach der Welthandel zusammen. Von 1930 bis 1933 ging er um zwei Drittel zurück. Auf der Strecke blieb auch die St.Galler Stickereiindustrie. Im Vergleich zu den Spitzenjahren vor dem Ersten Weltkrieg verlor die Branche neunzig Prozent ihrer Arbeitsplätze. Der Zollschutz löste kein einziges wirtschaftliches Problem. Er führte jedoch direkt in den Zweiten Weltkrieg. Protektionismus und Nationalismus gehen Hand in Hand.

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