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«Wir sitzen nicht einfach da und warten auf die zweite Welle»

Infektiologe nimmt Stellung «Wir sitzen nicht einfach da und warten auf die zweite Welle»

Interview von Alessandro Sgro, Chefökonom IHK St.Gallen-Appenzell

Im Iran ist die zweite Infektionswelle bereits da, in Israel auch: Solange es keine medizinischen Lösungen gibt, wird das Coronavirus nicht verschwinden und kann weitere Wellen auslösen. Im Interview erklärt der Ostschweizer Infektiologe Philipp Jent, Oberarzt am Inselspital Bern, wie wahrscheinlich eine zweite Welle in der Schweiz ist, wie sie uns treffen und man ihr begegnen könnte.

Die Fallzahlen sind aktuell erfreulicherweise sehr niedrig. Ist das Coronavirus verschwunden?

Schön wäre es, aber leider ist es nicht so einfach. Das Virus hat sich nicht grundsätzlich verändert, und wir haben nicht alle Fälle in der Schweiz eliminiert. Von einer Immunität grosser Teile der Bevölkerung – einer Herdenimmunität – sind wir weit entfernt. Epidemien verhalten sich häufig in Wellen. Ist eine Welle vorbei, meinen viele, es sei ganz vorbei.

Ist die Pandemie wenigstens unter Kontrolle?

Am Anfang gibt es in einer Bevölkerung viele versteckte Fälle. Auch über die Übertragungswege eines neuen Erregers ist noch nicht alles bekannt. Deshalb werden ungezielte Massnahmen wie ein Lockdown oder allgemeine Empfehlungen wie Distanzregeln angewendet. Letztlich versucht man, mit der ungezielten Senkung der Ansteckungsrate eine Überlastung des Systems wie in der Lombardei oder in New York zu vermeiden und die Fälle auf ein tiefes Niveau einzudämmen. Das ist zum Glück in der Schweiz gelungen – aktuell sind die meisten Übertragungsketten in der Bevölkerung bekannt und können direkt unterbrochen werden.

Die Ostschweiz ist trotz ihrer Grenznähe bis jetzt glimpflich davongekommen. Weshalb?

Ich denke nicht, dass die Grenznähe eine grosse Rolle spielt: Deutschland und Österreich antworteten ebenfalls vernünftig auf die Pandemie und ergriffen wie wir bereits früh Massnahmen.

Wie wahrscheinlich ist denn eine zweite oder dritte Welle?

Zuverlässig weiss das niemand. Die Modelle, die hier hilfreich wären, beruhen auf Annahmen, und die wichtigsten Faktoren können hier nur sehr willkürlich angenommen werden. Die Angst in der Bevölkerung ist gesunken – damit auch die Distanz und Vorsicht. Allerdings hilft nun der Sommer, dass wir uns nicht so dicht in Räume drängen. Ich persönlich glaube, dass all diese Faktoren zusammen wieder dazu führen, dass es «langsam» – viel langsamer als zu Beginn – wieder etwas mehr Übertragungen geben wird, mit kleineren lokalen Ausbrüchen über den Sommer hinweg und möglicherweise einer Welle im Winterhalbjahr. Das ist aber keine seriöse Prognose, sondern eher eine persönliche Vermutung.

Eine ähnlich heftige Entwicklung wie bei der Spanischen Grippe erwarten Sie also nicht?

Die Spanische Grippe breitete sich in einem anderen Umfeld aus. Alles geschah damals mit den Truppenverschiebungen des Ersten Weltkriegs. Zudem geht man davon aus, dass sich das Grippevirus damals vor der zweiten Welle besser an den Menschen anpasste. Übertragungswege wurden nur zum Teil verstanden. Effektiv eingesetzt wurden Massenveranstaltungsverbote und auch schon Masken – aber vermischt mit rückblickend absurden Empfehlungen wie dem Vermeiden enger Kleidung. Auch wenn es bei der aktuellen Pandemie, wie ich vermute, in nächster Zeit wieder zu etwas mehr Übertragungen kommt, wird es ein paar Wochen dauern, bis man von einer «zweiten Welle» sprechen kann – wenn überhaupt. Wir sitzen ja nicht einfach da und warten auf sie. Wenn es Ausbrüche an einem bestimmten Ort gibt, wird man lokal eingreifen. Sinken die Fälle, kann man wieder lockern. Im Winter sind wir allerdings wieder enger zusammen und mehr Leute sind erkältet, was die Gesundheitssysteme belasten kann – ob wegen Covid-19 oder sonst einem Virus.

Sie sagen, eine zweite Welle würde langsamer anlaufen. Wieso?

Während der Pandemie lernten wir, unser Verhalten anzupassen, was eine Ausbreitung verlangsamt. Zudem fehlt die grosse Dunkelziffer an nicht diagnostizierten Erkrankten in der Bevölkerung. Ein weiterer Faktor spielt aber bei der Entstehung einer Welle auch eine wichtige Rolle: Nicht jeder Erkrankte steckt gleich viele an. Einzelne können und scheinen auch in der aktuellen Pandemie für einen grossen Teil von Übertragungen verantwortlich zu sein – die sogenannten «Superspreader». Bleiben mehrere so entstandene «Erkrankungsnester» unerkannt, kann es plötzlich wieder schneller gehen, da es wieder mehr versteckte Fälle gibt.

Wie bekommt man solche Nester in den Griff, ohne wieder einen flächendeckenden Lockdown zu verordnen?

Indem bei jedem einzelnen Covid-19-Fall die Übertragungskette abgeklärt wird – und so möglichst Kontakte, die potentiell ansteckend sind, in Quarantäne gesandt werden. Das funktioniert aber nur, wenn sich die Leute jetzt bei Erkältungsbeschwerden grosszügig testen lassen. Alle, die ohne Beschwerden ansteckend sind, erreicht man so allerdings nicht. Es braucht also weiterhin auch ungezielte Massnahmen wie Distanzregeln und Masken.

Wie helfen dabei technologische Hilfsmittel wie eine Tracing-App?

Damit können noch mehr Ansteckungsketten unterbrochen werden, weil man auf einfachem Weg über einen Teil der Kontakte zu Ansteckenden informiert wird.

Viele sehen in einer Impfung den Schlüssel, um die Corona-Pandemie einzudämmen. Die Vergangenheit zeigte allerdings: Die Herstellung eines wirksamen Impfstoffes braucht deutlich mehr Zeit als die ein bis zwei Jahre, über die aktuell immer gesprochen wird. Wie sehen Sie das?

Es stimmt, dass die meisten Impfstoffe eine Entwicklungszeit von mehr als zehn Jahren benötigen. Wenn aber alles gut läuft, ist grundsätzlich eine Entwicklung bis zur ersten Hälfte 2021 möglich. Die Verfolgung vieler unterschiedlicher Entwicklungsansätze erhöht das Erfolgspotential.

Das sind erfreuliche Signale.

Ja, ich glaube aber nicht, dass die Impfung alleine die Lösung bringen wird, sondern dass sie einen weiteren Puzzlestein in der Pandemieeindämmung darstellt. Viele Impfstoffe für respiratorische Viren erzeugen nur eine vorübergehende Immunität und sind nicht so effektiv wie zum Beispiel eine Masernimpfung, sie schützen nur zu 30 bis 70 Prozent.

Es scheint, im Kampf gegen das Coronavirus ist die internationale Forschungsgemeinschaft näher zusammengerückt.

Ja, es sind sehr gute Kollaborationen entstanden und viele Erkenntnisse konnten damit in kurzer Zeit gewonnen werden. Da fast alle anderen Forschungsprojekte ausgesetzt wurden und das Interesse in diesem Bereich so gross ist, entstand leider aber auch eine Unmenge an Publikationen ohne Mehrwert – sozusagen «Quantität vor Qualität».

Prävention ist bekanntlich besser als Intervention. Seit 2012 besteht das Epidemiengesetz. Ein zentraler Bestandteil davon ist der Pandemieplan. Wo besteht Handlungsbedarf?

Wir überarbeiteten unseren Spitalpandemieplan an der Insel Gruppe, noch 2019 vollständig und unterhielten ein grosses Pandemielager. Ich hatte aber im letzten Dezember noch das Gefühl, die gesamte Arbeit wäre für die Schublade gewesen. Andere Institutionen und Kantone waren wohl weniger bereit, in dieses «unwahrscheinliche» Risiko zu investieren – wohl mit genau diesem Gefühl, dass es sich um eine Planung für ein nie eintretendes Ereignis handelt.


Philipp Jent ist Oberarzt Infektiologie und Spitalhygiene am Inselspital Bern. Der Toggenburger ist auch für die Pandemieplanung der grössten Spitalgruppe der Schweiz zuständig – und vor einigen Wochen selber an Covid-19 erkrankt, zum Glück ohne Komplikationen.

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