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«Wir laufen Gefahr, den Blick fürs Ganze zu verlieren»

Herausforderungen der Ostschweiz: Statements austretender IHK-Vorstandsmitglieder «Wir laufen Gefahr, den Blick fürs Ganze zu verlieren»

Robert Stadler, stv. Direktor / Leiter Kommunikation IHK

Nebst IHK-Präsident Peter Spenger treten vier weitere IHK-Vorstandsmitglieder dieses Jahr aufgrund der statutarischen Amtszeitbeschränkung zurück. Seit 2008 respektive 2009 engagierten sich Hans Altherr, Leodegar Kaufmann, Christof Stürm und Max Manuel Vögele im Vorstand. Zum Abschied nehmen sie Stellung, wo sie für unsere Wirtschaftsregion die grössten Herausforderungen sehen und wo die Ostschweiz dringend anpacken muss.

Hans Altherr, WEISS AG

Kürzlich war ich in Pakistan. Das Land ist etwa doppelt so gross wie Deutschland und die Schweiz zusammen und hat rund 180 Mio. Einwohnerinnen und Einwohner. In verschiedenen Gesprächen ist mir aufgefallen, dass sich die Menschen mit strategischen Fragen beschäftigen. Obwohl Pakistan von noch ärmeren Regionen umgeben ist und obwohl es so gross ist, dass es sich selbst genügen könnte, stellen sich auch Menschen ohne Macht die Frage, mit welchen Nachbarn sie Allianzen eingehen könnten. Derartige Überlegungen und Debatten täten auch der Schweiz und mit ihr der Ostschweiz gut, zumal bei uns ja das Volk das letzte Wort hat. Wir leben und jammern auf hohem Niveau und laufen Gefahr, den Blick fürs Ganze zu verlieren. Doch was heisst das für die Ostschweiz?
Die Ostschweizer Kantone, in erster Linie ihre Regierungen, sollten sich in einem ersten Schritt fragen, wie sie die Ostschweiz definieren: geografisch, wirtschaftlich, politisch? Danach wären die Felder möglicher Zusammenarbeit zu bestimmen: z.B. Gesundheit, Bildung, Infrastruktur. In diesen Feldern wäre die Zukunft projektbezogen, gemeinsam und zielgerichtet zu gestalten. Die Bevölkerung wäre von Anfang an miteinzubeziehen. Der mögliche Verlust an kantonaler Macht würde durch bessere und effizientere Lösungen und den Gewinn an Dynamik bei Weitem überkompensiert.
Dasselbe gilt im Grunde auch für Industrie, Handel und Gewerbe. Die Digitalisierung ist schon weit fortgeschritten. Es läuft die Vernetzung der Daten. Menschen kommunizieren mit Maschinen, Maschinen kommunizieren direkt miteinander. Diese Prozesse kann nur gestalten und beherrschen, wer selbst gut vernetzt ist. Allein sind diese Aufgaben nicht zu schaffen.

Max Manuel Vögele, Karl Vögele AG

Die Ostschweiz hat seit jeher – vor allem geografisch bedingt – einen eher schweren Stand, sich innerhalb der Schweiz, aber auch im Ausland zu behaupten. Dank Fleiss und innovativem Unternehmergeist ist es den Ostschweizern aber immer gelungen, ihre wirtschaftliche Bedeutung zu verteidigen. Davon zeugen heute noch die vielen erfolgreichen Industrieunternehmen, die teilweise sogar Weltbedeutung erlangt haben. Auch als Bildungsstätte geniesst die Ostschweiz – insbesondere mit der Universität St. Gallen – einen exzellenten Ruf. Und auch punkto Lebensqualität hat die Ostschweiz mit ihrer schönen Landschaft, der Seenähe und den fantastischen Bergen viel zu bieten. Also alles beste Voraussetzungen, um auch die Zukunft erfolgreich meistern zu können.
Die Herausforderungen liegen darin, diese Werte weiterhin zu pflegen, und in der Bereitschaft, sich schnell auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen einzustellen, um damit auch künftige Generationen für die Ostschweiz zu begeistern. Die Gefahr ist nach wie vor gross, dass viele junge Leute in den Grossraum Zürich ziehen, da dort das Jobangebot – insbesondere in der Finanz- und Dienstleistungsindustrie – sehr gross ist. Es muss gelingen, dass diese Leute mindestens ihren Wohnort in der Ostschweiz behalten. Dafür braucht es ein sehr gutes Verkehrsnetz und attraktiven Wohnraum.
Als Vertreter des Detailhandels liegt mir ausserdem die Stärkung der Shopping-Möglichkeiten am Herzen. Mit ihren Grenzkantonen haben die Ostschweizer Händler vor allem mit den Anbietern im naheliegenden Ausland zu kämpfen. Es muss daher auch gelingen, durch gute Verkehrsanbindungen, bequeme Parking-Möglichkeiten, aber auch durch liberalere Ladenöffnungszeiten die Kunden wieder vermehrt im eigenen Land zu begeistern. Oft wird vergessen, dass dieser Sektor sehr viele Arbeitsplätze bietet, die durch die jetzige Situation latent gefährdet sind.
Zu guter Letzt darf ich aber festhalten, dass die Arbeitsmoral und auch die Loyalität der Mitarbeitenden im Ostschweizer Detailhandel weit über dem gesamtschweizerischen Durchschnitt liegen.

Christof Stürm, Steinemann Technology AG

Wichtig erscheinen mir die Attraktivitätspunkte bei denen, die bereits hier sind. Also Massnahmen, damit sie bleiben – seien das Unternehmungen oder Private. Denn, Hand aufs Herz, was haben wir, was uns im Vergleich zum Vorarlberg, zu weiten Teilen Tirols oder auch anderen Gegenden in der Schweiz einzigartig macht? Also, wo sind aus meiner Sicht die wichtigsten Handlungsfelder?

Verkehr

Bessere Anbindung des öffentlichen und Individualverkehrs an Österreich und Deutschland sowie eine schnellere Erreichbarkeit von Zürich mit dem Zug: National ist das vielleicht machbar, aber es stehen auch andere an den Fleischtöpfen, die nicht auf den Kopf gefallen sind. Wir haben nur eine Chance, wenn die Ostschweizer Kantone koordiniert und mit ­einer Stimme agieren.

Bildung

Beschleunigter Zusammenschluss von Schulgemeinden: Bereits in der Grundschule sollen ausgezeichnete Infrastrukturen vorhanden sein, um gute Lehrkräfte anzuziehen.
Duales System: Geld, Energie und Esprit rein, und zwar für Berufsrichtungen, für die bereits heute haltbare Arbeitsplätze vorhanden sind.
Kein «me too» bei den Fachhochschulen: Das Geld auf weniger Studienrichtungen konzentrieren und qualitativ zweifelhafte Master­programme ersatzlos streichen.

Kultur & Freizeit

Die Giesskanne ist sicher nicht das Rezept. Also keine Verzettelung im Klein-Klein und daher nur Förderung von Initiativen und Projekten mit Potenzial zu Strahlkraft innerhalb der Ostschweiz und auch über unsere Grenzen hinaus – klotzen und nicht kleckern ...

Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Menschen in der Betreuung von Angehörigen (ob Kinder oder Ältere) unterstützen, teils entlasten. Hier geht es nicht nur um Psychohygiene, sondern um unsere Wirtschaft – sie braucht leistungsfähige Arbeitskräfte, die den Kopf frei haben, wenn sie arbeiten. Ein Beispiel wäre die baldige und flächendeckende Einführung von Tagesschulen.

Gemeinden und Kantone

Gemeinden zusammenlegen und Verschwendung beenden. Wir sind zu fragmentiert und somit zu teuer oder zu wenig gut. Erfolge in diesem Thema ergeben Spielraum für die obigen Punkte und nicht zuletzt für die Senkung der Steuersätze für Unternehmungen.

Leodegar Kaufmann, inspecta treuhand ag

Während meiner Tätigkeit als Vorstandsmitglied der IHK, wie auch als Präsident der Wirtschaftsregion St. Gallen (WISG), war es mir immer ein Anliegen, für die Unternehmen der Ostschweiz einen «fruchtbaren, unternehmensfreundlichen Boden» zu kultivieren. Grundlagen, auf welchen die Unternehmer ihre Firmen aktiv und zukunftsgerichtet weiterentwickeln können. Denn die Ostschweizer Unternehmer wissen sich selber zu helfen, man muss ihnen nur den dazu notwendigen Handlungsspielraum lassen. Die Bewältigung der negativen Folgen des Eurokurssturzes, Veränderungen des Kaufverhaltens über das Internet oder die laufende digitale Transformation zeigen dies in eindrücklicher Weise.
Wichtig scheint mir daher, in Zukunft weiter dafür zu sorgen, dass die Unternehmer einen möglichst grossen unternehmerischen Freiraum erhalten. Wir sind leider «Weltmeister» im Aufstellen von Reglementen, Vorschriften, Gesetzen und Verboten. Es ist absurd, welchen Umfang und Unsinn an Bürokratie die Bereiche Bauwirtschaft, Arbeitsmarkt, Lebensmittelbewirtschaftung, Wettbewerb, Verkehr u.v.a. zwischenzeitlich erreicht haben. Entrümpelung und zurück zum gesunden Menschenverstand ist angesagt!
Zudem erachte ich das «kleinräumliche Denken» der Ostschweiz in hohem Masse als wirtschaftshemmend. In diesem Bereich hat vor allem die Ostschweizer Politik entsprechende Verantwortung zu übernehmen. Es kann ja nicht sein, dass auf einer Fläche der Grösse der Ostschweiz vier Kantone ihre ­eigenen Infrastrukturen aufbauen und bewirtschaften. Sogar der Kanton St. Gallen bringt es nicht fertig, ernsthafte Wirtschaftsräume zu bilden, weil jede Region ihre eigene Schule, Brücke oder ihr eigenes Spital will. Der Markt hätte hier schon lange seine eigenen, wettbewerbsfähigen Strukturen gebildet, es würde effektiv Wettbewerb herrschen und bestimmte Politiker nicht in hohem Masse hemmend dagegen einwirken.
Viele Beispiele zeigen, dass vor allem die verkehrstechnische Erschliessung einer Region ihre Wettbewerbsfähigkeit stark beeinflusst. Auch hier hat die Region St. Gallen noch grosse Aufgaben zu erledigen. Einerseits schafft man es nicht, sich beim Bund genügend Gehör zu verschaffen, andererseits «kannibalisieren» sich die regionalen Interessengruppen gegenseitig und verhindern so die schon längst überfällige verkehrstechnische Erschliessung der Ostschweiz im Allgemeinen und der Stadt St. Gallen im Speziellen.
Die Betätigungsfelder der IHK werden also nicht ausgehen. Ich wünsche meinen verbleibenden Vorstandskolleginnen und -kollegen weiterhin viel Kraft, gegen diese Windmühlen anzukämpfen und den «unternehmerischen Boden» der Ostschweiz weiter in gutbäuerlicher Manier zu bearbeiten.

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