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«Raum für Austausch zwischen Forschung, Lehre und Praxis»

HSG-Rektor Thomas Bieger im Interview «Raum für Austausch zwischen Forschung, Lehre und Praxis»

Robert Stadler Stv. Direktor / Leiter Kommunikation IHK

Der 30. Juni 2019 ist ein wichtiger Tag für die Zukunft der Universität St. Gallen. Die St. Galler Stimmbevölkerung entscheidet dann über einen Ausbau der HSG am Platztor, am Rand der St. Galler Altstadt. HSG-Rektor Thomas Bieger äussert sich im Interview über die Notwendigkeit der Ausbauschritte, die neuen Studienangebote im Bereich der Informatik und der Medizin und über die teils heftige Kritik, die in den letzten Monaten an der HSG geübt wurde.

Thomas Bieger: Unser heutiger Standort am Rosenberg ist auf rund 5 000 Studierende ausgelegt. Derzeit sind rund 8 600 Studierende an der HSG eingeschrieben. Darüber hinaus laufen die Bewilligungen für Provisorien auf dem Campus in den kommenden Jahren aus. Mit einem neuen Campus am Platztor wird Raum für 3 000 Studierende geschaffen. Die HSG, die Universität des Kantons St. Gallen und einzige Universität der Ostschweiz, kommt damit mindestens teilweise zurück ins Stadtzentrum. Es wird aber auch Raum geschaffen für den Austausch zwischen Forschung, Lehre und Praxis und damit für eine nachhaltige Entwicklung eines prosperierenden Ausbildungs- und Denk­platzes Ostschweiz. Zudem entsteht neuer öffentlicher Raum, denn der neue Campus wird wie alle Anlagen der Universität St. Gallen allen zugänglich sein.

 

Was soll auf dem Areal genau passieren? Welche Chancen ergeben sich aus Ihrer Sicht für die Stadtentwicklung?

Die HSG war von 1898 bis 1963 im Stadt­zentrum zu Hause. Mit der Fertigstellung des Förderer-Baus zog sie 1963 auf den Rosenberg. Das war damals die erste «Cité Universitaire» in der Schweiz und wurde in den Publikumsmedien sogar als «Wunder von St. Gallen» beschrieben. Mit der Erweiterung am Platztor wird wieder eine stärkere Anbindung der Universität an die Stadt ermöglicht. Und es wird mit einem Campus, der forschungs­nahes Lernen betont, in der Schweizer Universitätslandschaft wieder ein Akzent gesetzt.

 

Ein weiteres Projekt ist das HSG Learning Center neben dem heutigen Bibliotheksgebäude. Dieses soll aber vollumfänglich privat finanziert werden.

Die HSG Stiftung möchte für die Universität ein Learning Center realisieren. Damit will sie für die Universität und ihre Studierenden einen Beitrag leisten, um den Herausforderungen der Digitalisierung gerecht zu werden und eine neue Qualität des Lernens zu ermöglichen. Mit dem Projekt «Open Grid – Choices of Tomorrow» werden 500 bis 700 Lernplätze für Studierende geschaffen. Gesamthaft zielt die Spenden-Initiative auf einen Betrag von rund 60 Millionen Franken. Die Stiftung hat bis heute bereits über 50 Millionen gesammelt.

 

Ist es in Zeiten der Digitalisierung nicht überholt, so viel Geld in Beton, sprich in Gebäudeinfrastrukturen, zu investieren?

Eine Universität hat im digitalen Zeitalter nur eine Existenzberechtigung, wenn sie gegenüber dem im Internet verfügbaren Wissen einen Mehrwert schafft. Die Universität 4.0 wird daran gemessen werden, welchen Mehrwert sie im Sinne von transformativen Lernzielen bietet. Im Vordergrund stehen Lernen und nicht Lehre, Erfahrungen und Entdeckungsprozesse und nicht Wissensvermittlung, kollaboratives Lernen im Austausch mit Forschung und Praxis und nicht Einbahn­aufnahme von Lehrbuchwissen. Daher arbeitet die HSG an innovativen Lehr- und Lern­formen, die auch neue Raumkonzepte erfordern. Mit der Digitalisierung werden neue Gefässe und Instrumente geschaffen, mit denen sich die Studierenden zielgerichtet auf die Lehrveranstaltung vorbereiten können.

Die Digitalisierung beschäftigt also auch die HSG stark: Im Februar stimmten die St. Galler der IT-Bildungsoffensive und damit dem Aufbau einer School of Information and Computing Science zu. Wie geht es dort weiter?

Mit der erfreulichen Annahme der Initiative kann die HSG eine universitäre Informatikausbildung etablieren und ihren Beitrag zur Linderung des Fachkräftemangels in der Ostschweiz leisten. Wir sind hier übrigens auch der IHK dankbar, weil ein besonderer Anstoss für dieses Projekt in Form der Finanzierung einer Machbarkeitsstudie erfolgte. An der HSG wird nun eine School of Information and Computing Science geschaffen und je ein neuer Bachelor- und Masterstudiengang eingeführt, voraussichtlich mit der Bezeichnung «Informatik und Management». Die beiden Studiengänge werden rund 150 Studierende pro Jahr zählen und beginnen voraussichtlich in den Jahren 2021 beziehungsweise 2022.

Die HSG hat übrigens bereits 2018 aus Mitteln des bestehenden Leistungsauftrages ein Institute of Computer Science geschaffen, das mit vier neuen Lehrstühlen die bestehende Lehre und Forschung in unterschiedlichen Teildisziplinen unterstützt und ausbaut.

 

Welche Kompetenzen bringt ein solcher Absolvent in den Arbeitsmarkt?

Die HSG vermittelt als eine führende Wirtschaftsuniversität Europas in Recht, Wirtschaftswissenschaften und Internationale Beziehungen nicht nur aktuellstes Fach- und Methodenwissen. Sie versteht sich vor allem auch als Denkplatz, auf dem eine offene Auseinandersetzung mit kontroversen Ideen möglich sein soll. Dazu dient das sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Kontextstudium. Zudem wird Unternehmertum in den über 100 studentischen Vereinen und bei Start-up-Aktivitäten in der Gründergarage und anderen Einrichtungen praktisch erfahren. Verantwortung und Nachhaltigkeit wird nicht nur in entsprechenden Lehrveranstaltungen vermittelt, sondern auch in der Praxis unter anderem durch die Organisation internationaler Konferenzen wie dem START Summit oder dem St. Gallen Symposium geübt.

 

Eine weitere Ausweitung des traditionellen Studienangebotes betrifft den Medical Master. Wie ist hier der Stand?

Die Stimmbevölkerung hat mit dem sehr deutlichen Ja zum Medical Master bestätigt, dass eine Ärzteausbildung für die Zukunft der Region als sehr wichtig erachtet wird. Der Mangel an medizinischem Fachpersonal in der Ostschweiz wird sich durch die demografische Entwicklung der Bevölkerung und Ärzteschaft noch verstärken.

Ab dem Herbstsemester 2020 werden 40 Studierende ihr Master-Hauptstudium in Humanmedizin an der Universität St. Gallen absolvieren können. Ihr Bachelor-Studium schliessen sie an der Universität Zürich ab. Dieser sogenannte «Joint Medical Master» stützt sich auf eine Kooperation zwischen den Universitäten St. Gallen und Zürich in Zusammenarbeit mit dem Kantonsspital St. Gallen und dem Universitätsspital Zürich.

Mit dem Joint Medical Master wird auch der Ostschweizer Wirtschafts- und Bildungs­standort gestärkt und ein Ausbildungsangebot geschaffen, welches Wissen aus Medizin, Management und Pflege kombiniert. Die HSG wiederum erhält einen verstärkten Anschluss zum wissenschaftlichen Wachstumssegment der Medizin, Gesundheitsforschung und der Life Sciences, was als grosse Chance zu betrachten ist.

 

Die HSG stand in den letzten Monaten im medialen Kreuzfeuer und wurde von der Politik teils heftig kritisiert. Rückblickend betrachtet: Was hätte die HSG und ihre Exponentinnen und Exponenten besser machen müssen?

Es sind Fehler passiert und wir müssen daraus lernen. Damit wollen wir nicht nur einzelne Missstände korrigieren, sondern auch einen grundlegenden Kulturwandel insbesondere im Umgang mit selbsterwirtschafteten Drittmitteln einleiten. Wir haben dem Kantonsrat und der Regierung einen Massnahmenplan zur Aufarbeitung der Vorfälle im Bereich Compliance vorgelegt. Einzelne Reglemente und Massnahmen wie beispielsweise verschärfte Spesenkontrollen wurden bereits eingeführt. Zurzeit sind Sonderprüfungen und Ausbildungsprogramme zur Compliance an den Instituten im Gang.

In der auch jüngsten Vergangenheit wurden Unternehmertum und Drittmittelanteil wie auch Ausbauprojekte, auch die beiden oben erwähnten, priorisiert. Das hat uns eingeholt. Wir arbeiten mit Hochdruck an der Stärkung der Compliance, auch gerade um die Stärken der HSG, ihre Praxisverbundenheit und ihr Unternehmertum zu erhalten.

 

Die HSG bewegt sich zwischen öffentlicher und privater Universität: Sie ist zwar eine kantonale Universität, ist aber bei der Beschaffung von Dritt­mitteln höchst erfolgreich. Wäre es langfristig eine Option, die HSG vollständig zu privatisieren?

Die Universität St. Gallen ist eine öffentliche Universität und steht zu ihrem öffentlichen Auftrag. Als Privatuniversität müsste sie um ein Vielfaches höhere Studiengebühren verlangen, was dem wichtigen Anliegen des Ausgleichs der Startchancen zuwiderlaufen würde. Sie müsste viele Forschungsthemen, für die sich keine private Finanzierung finden lässt, die aber von gesellschaftlichem Interesse sind, aufgeben. Die HSG ist sich auch ihrer Verantwortung als Element des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Raums St. Gallen und Ostschweiz bewusst und will als international ausstrahlende Institution zu dessen Entwicklung beitragen – nicht nur durch Wertschöpfungseffekte in der Höhe von 235 Millionen Franken, sondern auch durch kulturelles Engagement und Wissens­transfer.

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