Sie sind hier

«Es geht nicht um Schulhäuser, sondern um Kompetenzen»

Kurt Weigelt im Interview zur Berufsbildung 4.0 «Es geht nicht um Schulhäuser, sondern um Kompetenzen»

Dr. Kurt Weigelt

Robert Stadler, Stv. Direktor / Leiter Kommunikation IHK

«Zukunft Ostschweiz» stand dieses Jahr im Zeichen der Berufsbildung. Die IHK schlägt eine Weiterentwicklung der Berufsfachschulen zu Kompetenzzentren einzelner Berufsfelder vor. Damit soll der rasche Wandel in der Arbeitswelt in der Berufsbildung besser abgebildet werden. IHK-Direktor Kurt Weigelt erklärt im Interview, weshalb die duale Berufsbildung eine Weiterentwicklung nötig hat.

Die duale Berufsbildung gilt als eine Stärke der Schweiz. Und jetzt kommt die IHK und setzt ein Fragezeichen. Kritik als reiner Selbstzweck?

Kurt Weigelt: Überhaupt nicht. Die IHK St.Gallen-Appenzell ist ganz einfach der Meinung, dass in der Bildungspolitik entscheidende Weichenstellungen für die Zukunft getroffen werden. Dies gilt nicht nur für Hochschulen, sondern auch für die Berufslehre. Bekanntlich müssen wir alles ändern, wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist.

Die IHK selbst ist nicht Teil des Berufsbildungssystems. Wie kommen Sie zu Ihren Ergebnissen?

In erster Linie sind es unsere Vorstandsmitglieder, die alle mit ihren Betrieben in der Berufsbildung engagiert sind. Zur Objektivierung dieser Inputs gaben wir zudem bei der Fachhochschule St.Gallen ein Marktforschungsprojekt zu den Anforderungen an eine zukunftsgerichtete Berufsbildung in Auftrag. Die vier Studierenden haben eine ausgezeichnete Arbeit abgeliefert.

Mit welchen Resultaten?

Blicken wir zuerst auf die Stärken: Das duale Berufsbildungssystem in der Schweiz geniesst eine hohe Akzeptanz. Die ausserordentlichen Leistungen vieler Unternehmen sind ohne gut ausgebildete Berufsfachleute nicht denkbar. Die frühe Integration in den Arbeitsmarkt ist mitverantwortlich für den im weltweiten Vergleich hohen Beschäftigungsgrad von jungen Erwachsenen. Auf allen Ebenen der Berufsbildung wird mit viel Engagement gearbeitet. Angesichts dieser Stärken erstaunt es nicht, dass Experten im Ausland mit grossem Interesse auf die Schweiz blicken. Wir sind zu Recht stolz auf unsere Berufslehre.

Aber offensichtlich ist nicht alles Gold, was glänzt.

Exakt. Der rasche Wandel in der Arbeitswelt geht nicht spurlos an unserer Berufsbildung vorüber. Im Gegenteil. Die Nähe zur realen Wirtschaft fordert die Berufslehre weit mehr heraus als theorielastige Lehrgänge an Hochschulen.

Was bedeutet das konkret?

Das Berufsbildungssystem in der Schweiz ist in hohem Masse reguliert. Auf nationaler Ebene gibt es 230 Verordnungen über die berufliche Grundbildung, 400 Prüfungsordnungen und 40 Rahmenlehrpläne der höheren Berufsbildung. Die Einführung eines neuen Berufsbildes dauert zehn Jahre. Der vom Bundesamt für Bildung, Forschung und Innovation vorgegebene Zeithorizont für eine neue Vision und neue strategische Leitlinien für die Berufsbildung zielt auf das Jahr 2030. Und dies alles in einem Umfeld, in dem heute kaum jemand weiss, was morgen alles möglich ist. Arbeitswelt und Berufsbildung sind mit zwei unterschiedlichen Veränderungs­geschwindigkeiten unterwegs.

Mit anderen Worten, das Problem liegt in Bundesbern.

Auch, aber nicht nur. Erschwert werden Veränderungsprozesse durch die aktuelle Organisation der Berufsfachschulen. Diese sind überwiegend nach geografischen Gesichtspunkten und nicht nach Ausbildungsinhalten organisiert. In einzelnen Berufsfachschulen führt dies zu einem eigentlichen Sammelsurium an Lehrgängen. Am gewerblichen Berufs- und Weiterbildungszentrum St.Gallen beispielsweise werden rund vierzig Berufe gelehrt, von der Bäckerin über den Carrosserie-Lackierer bis zum Interactive Media Designer. Unter diesen Voraussetzungen ist es schwierig, den Besonderheiten der einzelnen Berufsfelder gerecht zu werden.

Was könnte man besser machen?

Die IHK St.Gallen-Appenzell schlägt vor, die Berufsfachschulen künftig nach Kompetenzen und nicht länger nach geografischen Gesichtspunkten zu organisieren. Unser Ziel ist es, dass für jedes Berufsfeld eine Berufsfachschule gebildet wird, die in enger Zusammenarbeit mit den Unternehmen, einem Berufsfachschulrat und Fachlehrern aus der Praxis die Berufsbildung der entsprechenden Branchen in die Zukunft führt. Und dies idealerweise über die Kantonsgrenzen hinaus.

Will die IHK eine Zentralisierung der Berufsbildung?

Nein. Je nach Grösse eines einzelnen Berufs wird auch in Zukunft an verschiedenen Standorten ausgebildet. Es geht nicht um Schulhäuser, sondern um die Bündelung von Kompetenzen. Dazu gehört eine hohe organisatorische und inhaltliche Autonomie der einzelnen Berufsfachschulen. Für die Ausbildung in IT-Berufen müssen andere Parameter möglich sein als für einen eher traditionellen handwerklichen Beruf. Die politische Führung der kompetenzorientierten Berufsfachschulen erfolgt über Leistungsvereinbarungen. Das Tagesgeschäft wird entpolitisiert. Bei Berufen, die an mehreren Standorten ausgebildet werden, erwarten wir positive Effekte von den Möglichkeiten der freien Schulwahl. Die Ausbildner in den Unternehmen entscheiden, welche Schule ihre Lernenden besuchen. Wettbewerb macht stark.

Dies klingt alles sehr nach politischer Logik. Wo sind aber die Vorteile für die Lernenden und die Unternehmen?

Mit dem Umbau der Berufsfachschulen zu fachspezifischen Kompetenzzentren machen wir die Berufsbildung fit für die Zukunft. Wir geben der Zusammenarbeit von Arbeitswelt und Schulen eine neue Qualität und schaffen die Voraussetzungen, damit sich die einzelnen Berufsfachschulen entsprechend den Bedürfnissen und der Veränderungsgeschwindigkeit der jeweiligen Branche entwickeln können. Wir sind sicher, dass die branchenspezifische Ausrichtung die Identifikation von Lernenden und Unternehmen mit ihrer Schule markant steigern wird. Begeisterte Absolventen sind die besten Botschafter für die duale Berufs­bildung. Unser Ziel ist es, dass unsere Berufsfachschulen von der Öffentlichkeit auf Augenhöhe mit den Mittelschulen wahrgenommen werden. Und nicht zuletzt geht es auch um die internationale Anschlussfähigkeit unseres Berufsbildungssystems. Das Diplom einer Professional School wird auch von einem Manager einer internationalen Firma verstanden, für den die duale Berufsbildung ein Buch mit sieben Siegeln ist.

Wo sehen Sie die Berufsfachschulen in zehn Jahren?

Wir träumen davon, dass beispielsweise die Ostschweizer Industrie über eine eigene Berufsfachschule Technik verfügt, auf Englisch Professional School of Technology. Hier werden alle Ausbildungs- und Weiterbildungskompetenzen der Industrieunternehmen, der Berufsfachschulen und der überbetrieblichen Kurse der industriellen Berufe gebündelt. Auch in diesem Zusammenhang gilt: Gemeinsam sind wir stärker.

Diese Beiträge könnten
Sie ebenfalls interessieren: