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«Eine deutliche Standort­reduktion ist gut für die Qualität»

Spitalstrategie «4plus5» auf dem Prüfstand «Eine deutliche Standort­reduktion ist gut für die Qualität»

Jan Riss, Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Ende 2019 informierte die St. Galler Kantonsregierung, wie sie die St. Galler Spitalverbunde medizinisch und wirtschaftlich für die Zukunft rüsten will. Sie schlägt mit ihrer Strategie «4plus5» eine Leistungskonzentration und eine Reduktion der Spitalstandorte vor. Regionale Partikularinteressen und Emotionen prägen die laufende Debatte. Ein sachlicher Blick fürs Ganze tut not – Gesundheitsökonom und Professor Tilman Slembeck zeigt diesen im Gespräch.

 

Tilman Slembeck, welche Themen beschäftigen Sie als Gesundheitsökonom zurzeit?

Die Frage, wie man die Gesundheitskosten in den Griff bekommt, ist ein Dauerbrenner. In vielen Kantonen geht es auch um die Optimierung der Spitallandschaft. Dabei berate ich Kantonsregierungen.

 

Die Weiterentwicklung der Strategie der St. Galler Regierung wirft hohe Wellen. Zu Recht?

Gesundheit ist ein sehr emotionales Thema. Mancherorts geht es auch um Arbeitsplätze und deren Erhalt. Nicht zuletzt gilt es, einen dauerhaften Verlust von jährlich etwa 70 Millionen Franken an Prämien- und Steuergeldern zu vermeiden. Deshalb bewegt die neue Spitalstrategie die Gemüter.

 

Wie beurteilen Sie den vorliegenden Entwurf aus gesundheitsökonomischer Perspektive?

Im Vordergrund stehen dabei die Qualität der Leistungen, die Effizienz der Leistungserbringung und der Zugang zu den Leistungen. Die grundsätzlichen Stossrichtungen sind begrüssenswert.

 

Inwiefern ist die Qualität der Leistungen betroffen?

Aus Sicht der Qualität der Gesundheitsleistungen ist eine deutliche Reduktion der Standorte positiv. Grund sind höhere Fall­zahlen an weniger Standorten. Sie erhöhen die Qualität aufgrund grösserer Routine und besseren Umgangs mit Problemfällen. Der positive Zusammenhang zwischen Fallzahlen und Qualität ist auch anhand vieler medizinischer Studien empirisch gut belegt. Wichtig zu wissen ist, dass rein finanzielle Aspekte nicht im Vordergrund stehen. Die kleinen Standorte könnten ihr heutiges Angebot selbst dann nicht aufrechterhalten, wenn jemand das finanzielle Defizit einfach übernehmen würde.

 

Weshalb?

Die hohe Qualität der Versorgung, wie sie die Bevölkerung zu Recht erwartet, lässt sich an vielen kleinen Standorten heute nicht mehr aufrechterhalten, wie dies früher der Fall war. Früher konnte man dort beispielsweise All­gemeinchirurgen anstellen. Diese gibt es praktisch nicht mehr. Heute gibt es Hand­chirurgen, orthopädische Chirurgen, Thorax-chirurgen und so weiter – sie sind hoch spezialisiert. Selbst wenn Sie an einem kleinen Spital einen solchen anstellen könnten, wäre das sehr teuer, und Sie können ihn nicht auslasten. Diese gesuchten Spezialisten gehen lieber direkt an grössere Spitäler.

 

Welche Rolle spielt hier das Zusammen­wirken von ambulantem und stationärem Sektor?

Es ist wichtig für die Versorgungsqualität. Dabei ist jeder der fünf Standorte, die ein Gesundheits- und Notfallzentrum erhalten sollen, gesondert zu betrachten. Spezifische Faktoren am jeweiligen Standort spielen dabei eine Rolle, wie etwa die Bausubstanz beziehungsweise der Investitionsbedarf – aber auch die Möglichkeiten und Bereitschaft der niedergelassenen Leistungserbringer zur Kooperation mit oder Beteiligung an solchen Zentren. Ärztehäuser und Gemeinschaftspraxen sind ohnehin im Trend, weil sie der Arbeits- und Lebensweise einer jüngeren und zunehmend weiblichen Ärzteschaft entgegenkommen. Einzelpraxen sind ein Auslaufmodell.

 

Sie erwähnten zudem die Effizienz der Leistungserbringung.

Ein Ziel der Vorlage ist, die Kostenentwicklung in den Griff zu bekommen und das Betriebsergebnis der Spitäler zu stärken. Das angestrebte Ziel einer EBITDA-Marge von 10 Prozent kann mit den prognostizierten 7,9 Prozent per 2036 klar nicht erreicht werden, sodass der Kanton weitere Mittel einschiessen muss. Aus rein finanzieller Optik ist deshalb eine weitere Reduktion der Standorte zu prüfen.

 

Wie kommt dieser Zielwert von 10 Prozent EBITDA zustande?

Er ist Branchenkonsens. Ein Betriebsergebnis in dieser Grössenordnung ist erforderlich für die Finanzierung von Reinvestitionen, Amortisationen oder Kapitalkosten. Wichtig: Eine effizientere Leistungserbringung reduziert ­einerseits die direkten betrieblichen Kosten, aber bei steigender Qualität via höhere Fallzahlen sinken auch die volkswirtschaftlichen Folgekosten – zum Beispiel durch eine tiefere Anzahl Rehospitalisationen und weniger Fehlzeiten am Arbeitsplatz.

 

Sie sagen, die Strategie sei auch hinsichtlich des Zugangs zu den Leistungen zu beurteilen.

Genau! Hier muss man zwischen physischem und finanziellem Zugang unterscheiden. Der physische Zugang zu Leistungen ist weiterhin gewährleistet, indem die Bevölkerung bei nicht dringlichen, planbaren Eingriffen ein Spital in rund dreissig Minuten erreichen kann. International ist dies ein tiefer Wert. Und angesichts der Tatsache, dass die reine Freizeitmobilität für Ausflüge und das Aus­gehen wöchentlich über fünf Stunden beträgt, scheinen dreissig Minuten für einen geplanten Spitalaufenthalt sehr zumutbar.

 

Zeitlich kritischer ist die Rettung bei Notfällen.

Das ist so. Sie erfolgt über ein eigenes Rettungssystem mit Ambulanzen und Helikoptern. Das Ziel ist, möglichst schnell beim Pa­tienten zu sein und eine Notfallversorgung zu erbringen. Anschliessend ist der Transport viel weniger zeitkritisch. Jede Patientin muss dann dorthin gebracht werden, wo sie die individuell optimale Versorgung erhält. Schon heute fährt die Rettung regelmässig an den kleinen Spitälern vorbei, direkt in die grossen Zentren. Für kleinere Notfälle stehen zudem weiterhin die geplanten Gesundheits- und Notfallzentren bereit.

 

Und wie sieht es mit dem finanziellen Zugang aus?

Hier geht es darum, dass alle Bürger unabhängig von ihrem Einkommen Zugang zu den Gesundheitsleistungen der Grundver­sicherung haben sollen. Durch die Vorlage wird niemand finanziell benachteiligt. Im Gegenteil kann man erwarten, dass sich ein gedämpftes Kostenwachstum mittelfristig auch günstig auf die Prämienentwicklung auswirken wird. Davon profitieren insbesondere die unteren Einkommensschichten.

 

Der Regierung wird unter anderem ein fehlender Blick über den kantonalen Tellerrand vorgeworfen.

Von einer mittel- bis langfristigen Strategie kann man erwarten, dass sie alle im Zeit­horizont relevanten Aspekte abzudecken versucht. Dabei geht es vorliegend auch um die Planung in Versorgungsräumen, nicht ausschliesslich im Rahmen von Kantonsgrenzen.

 

Kürzlich haben die Kantone St. Gallen und beide Appenzell angekündigt, eine gemeinsame Spitalliste anzu­streben. Was halten Sie von dieser Absichtserklärung?

Hinsichtlich kantonsübergreifender Zusammenarbeit ist sie ein Lichtblick. Vielen ist aber offenbar nicht bewusst, dass dies einen grundlegenden Wandel bedeutet. Ich bin Mitglied einer Expertenkommission, die aktuell an einer gemeinsamen Liste für beide Basel arbeitet. Man muss den gesamten Versorgungsraum neu beurteilen, als ob er ein einziger Kanton wäre. Nur dann ist eine qualitativ hochwertige und effiziente Gesundheitsversorgung möglich. In der Ostschweiz müsste man unbedingt auch Chur, Vaduz und Glarus sowie Teile der Kantone Zürich und Thurgau mit in die stationäre Planung einbeziehen. Das ist ein langer Weg, der sich aber garantiert lohnt.

 

Welche Rolle nehmen die privaten Anbieter auf diesem Weg ein?

Bezüglich der künftigen Rolle von privaten Anbietern scheint aktuell noch vieles offen. Aus gesundheitsökonomischer Sicht besteht kein plausibler Grund, warum der Kanton die Gesundheitszentren selbst betreiben müsste. Ein staatlicher Betrieb liesse sich allenfalls durch ein Unterangebot rechtfertigen, wo­rauf es allerdings kaum Hinweise gibt. Ansonsten sollte der Staat die Privaten allenfalls ergänzen, aber nicht konkurrenzieren.

 

Die Transformation soll bis 2028 abgeschlossen sein. Ist dieser Zeitplan angemessen?

Angesichts der strukturellen Defizite von rund siebzig Millionen Franken pro Jahr scheint er eher zu lang. Allerdings ist die Langfristigkeit wohl der praktischen Umsetzung geschuldet. Insbesondere müssen die verbleibenden Standorte neu ausgerichtet, ergänzt und teilweise auch aufgestockt werden. Das dürfte einen schnelleren Zeitplan schwierig machen.

 

Die IHK hat mit «HFutura» bereits 2014 eine ähnliche Strategie vorgeschlagen, wie sie nun auf dem Tisch liegt.

In meiner Analyse aus dem Jahre 2010 hatte ich eine mutige Politik gefordert, die auf kleinräumige, qualitativ ungenügende und ineffiziente Strukturen verzichtet. Die politische Aufgabe bestand schon damals darin, der Bevölkerung zu vermitteln, dass nicht mehr alle Spitäler sämtliche Angebote aufrechterhalten können und manche Häuser geschlossen oder grundlegend neu ausgerichtet werden müssen. Die Schliessungen waren längst überfällig und hätten dann wesentlich sanfter erfolgen können – unter längerfristigem Einbezug von Bevölkerung und Leistungserbringern.

 

Wie lautet Ihr Fazit zur vorgesehenen Weiterentwicklung der Spitalstrategie?

Die medizinisch-technische Entwicklung hat dazu geführt, dass die neun Standorte ohnehin nicht mehr in der alten Form gehalten werden können. Insbesondere, weil das spezialisierte Fachpersonal fehlt und dieses – falls vorhanden – an den kleinen Standorten nicht ausgelastet werden kann. Die bestehende, akutsomatische Versorgungsstruktur im Kanton St. Gallen ist deshalb nicht aufrechtzuerhalten und eine Reduktion der Standorte klar zu begrüssen.
Hinsichtlich Effizienz und Qualität ist die Vorlage positiv zu beurteilen. Noch besser wäre eine gemeinsame Spitalliste für die gesamte Ostschweiz und die angrenzenden Versorgungsgebiete. Die Erreichbarkeit bei planbaren Eingriffen liegt mit rund dreissig Minuten auch bei Annahme der Vorlage völlig im Rahmen der nationalen Standards. Rettungs- und Notfalldienste sind separat organisiert und können sich im Bedarfsfall auf die Notfallzentren an allen bisherigen Standorten stützen.

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