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«Auch wenn wir uns in der beruflichen Vorsorge in einer Systemkrise befinden, sollten unsere Kunden die Wahl haben»

Vollversicherung: Modell der Vergangenheit? «Auch wenn wir uns in der beruflichen Vorsorge in einer Systemkrise befinden, sollten unsere Kunden die Wahl haben»

Hedwig Ulmer, Leiterin Bereich Berufliche Vorsorge bei Helvetia Schweiz.

Markus Bänziger IHK-Direktor

Der Markt für Vollversicherungslösungen bei den Pensionskassen leert sich: Die Anbieter für die bei KMU beliebten Vollversicherungen lassen sich an einer Hand abzählen. Lohnt sich da das Geschäft mit diesen Pensionskassenlösungen noch? Und was müsste sich ändern, damit es auch in Zukunft so bleibt? Zu Besuch bei Hedwig Ulmer, Leiterin Bereich Berufliche Vorsorge bei Helvetia Schweiz.

Frau Ulmer, noch fünf private Versicherer bieten BVG-Vollversicherungslösungen an, Sie sind einer davon. Ist die Vollversicherung trotz hohen Risiken – genannt seien hier der gesetzlich vorgegebene zu hohe Umwandlungssatz im Obligatorium und die Tiefzinsphase – für Sie noch lukrativ?

Hedwig Ulmer: Unsere Kunden sollen die Wahl haben. Wir bieten die Vollversicherung an, weil diese für KMU ein Bedürfnis ist. Viele Unternehmer möchten das Anlagerisiko nicht selbst tragen. Selbstverständlich kosten die umfassenden Garantien auch etwas, der Preis berücksichtigt das Risiko.

Die FINMA auferlegt den Vollversicherern strengere Kapitalvorschriften, als sie teilautonome Pensionskassen kennen. Dadurch verteuern sich jene Anlagestrategien der Versicherer, die höhere Aktien- oder Immobilienquoten beinhalten würden – was sich eher negativ auf die erwarteten Renditen auswirkt. Werden damit private Ver­sicherer von der Aufsichtsbehörde bzw. vom Gesetzgeber gegenüber Sammelstiftungen benachteiligt?

Mit solch umfassenden Garantien, wie dies die Vollversicherung beinhaltet, muss die langfristige Anlagepolitik auf Sicherheit ausgerichtet sein. Entsprechend tief ist die Ak­tienquote. In diesem Sinne sind aus meiner Sicht die Kapitalvorschriften nicht das Pro­blem. Schwierigkeiten bereiten vor allem die unrealistischen Umwandlungssätze und die extrem tiefen Zinsen. Für ein Garantieprodukt wie die Vollversicherung sind diese verheerend.

Kleinere und mittlere Unternehmen entscheiden sich oftmals aufgrund der geringeren Komplexität und der vollständigen Auslagerung der Anlage­risiken für die Vollversicherung. Wiegen die Vorteile der Vollversicherung für das KMU – die umfassende Auslagerung der zentralen Risiken – die allfällig langfristig tieferen Renditen auf?

Das muss jedes KMU abhängig von seinen Bedürfnissen und Rahmenbedingungen für sich selbst entscheiden. Ein KMU entscheidet sich bewusst für eine Vollversicherung, weil es die Risiken selber nicht tragen will oder kann. Für ein renditeorientiertes KMU kann eine teilautonome Lösung passender sein.

Das Pensionskassensystem bevorzugt also grosse Unternehmen nicht gegenüber KMU mit Vollversicherungslösungen?

Nein, bei der Aufnahme ist die Altersstruktur die absolut entscheidende Grösse. Wir müssen bei Neuaufnahmen für unsere Bestandskunden die finanzielle Stabilität sichern. Nur so können wir die Garantieleistungen der Vollversicherung weiterhin aufrechterhalten. Es sind also eher Unternehmen mit einer ungünstigen Altersstruktur, für welche es schwierig ist, eine passende Lösung zu finden.

Das bis vor einigen Jahren auch international gelobte Dreisäulenprinzip der Schweiz steht unter Druck. Das statische Konzept von de facto versprochenen festen Renten lässt sich aufgrund der Entwicklungen in der Demografie und im Zinsumfeld nicht mehr aufrechterhalten. Obwohl eine der Haupt­sorgen von Herrn und Frau Schweizer, ist die Politik bislang nicht in der Lage gewesen, die 2. Säule zu reformieren. Ist in diesem äusserst schwierigen Umfeld das Angebot von Vollversicherungen überhaupt noch vertretbar?

Die Vollversicherung ist ein Bedürfnis bei den KMU, dem Rückgrat der Schweizer Wirtschaft. Und auch wenn wir uns in der beruflichen Vorsorge in einer Systemkrise befinden, sollten unsere Kunden die Wahl haben. Um die finanzielle Stabilität unserer Kunden zu sichern, haben wir unseren Handlungsspielraum ausgenutzt und unsere Konditionen angepasst. Dafür haben wir auch einen Prämienrückgang in Kauf genommen.

Wo sehen Sie den grössten Reform­bedarf in der 2. Säule?

Beim BVG-Umwandlungssatz. Dieser liegt aktuell mit 6,8 Prozent weit über einem ökonomisch korrekten Niveau und führt zu einer Umverteilung von der jüngeren zur älteren Generation. Mit den geburtenstarken Jahrgängen, die in den nächsten Jahren in Pension gehen, wird sich die Situation weiter zuspitzen. Eine Reform der Altersvorsorge ist nach wie vor zwingend und dringend notwendig. Die Politik muss einen mehrheits­fähigen Reformvorschlag erarbeiten. Es braucht einen tieferen Umwandlungssatz und wir müssen über die Erhöhung des Rentenalters für Frauen sprechen. Grundsätzlich braucht es auch eine Entpolitisierung der politisch festgelegten Parameter, sodass eine Anpassung an die ökonomische und demografische Realität möglich ist: Ein starrer Mindestzinssatz in Zeiten von Negativzinsen, im europäischen Vergleich eines der tiefsten Rentenalter bei einer steigenden Lebenserwartung – das ist schlicht nicht nachhaltig und setzt die Stabilität des Systems fahrlässig aufs Spiel.

Sie sprechen sich für eine Entpolitisierung der zentralen Parameter aus, meinen Sie damit Umwandlungssatz und technischen Zinssatz? Wenn ja, wie könnte die Definition dieser Parameter im revidierten, dynamischen System entpolitisiert erfolgen?

Das heisst konkret, dass Umwandlungssatz und Mindestzins nicht mehr im Gesetz verankert sind, sondern den aktuellen Entwicklungen von Lebenserwartung und Kapitalmärkten gehorchen würden. Und auch könnte dies heissen, dass kein fixes Pen­sionierungsalter mehr besteht, sondern ein flexibles Renteneintrittsalter.

Wie lassen sich Gesellschaft und Politik von der Notwendigkeit von umfassenden Reformen überzeugen?

Bis vor Kurzem war das Schweizer System wirklich ausgezeichnet. Mittlerweile ist dieser Vorteil im Vergleich zu anderen Ländern verspielt, weil unsere Vorsorge der Realität in Demografie und Zinsniveau nicht mehr gerecht wird. Covid-19 verschärft die Krise der Schweizer Altersvorsorge nochmals. Wenn wir unser erfolgreiches Dreisäulenmodell nicht binnen weniger Jahre gegen die Wand fahren wollen, müssen wir eine Lösung finden. Diese finanzielle und gesellschaftspolitische Zeitbombe tickt zu laut, das kann niemand mehr ignorieren.

Wir können nur immer wieder die Zusammenhänge aufzeigen, an die Verantwortung und Einsicht des Einzelnen sowie auch an die gutschweizerische Kompromissfähigkeit appellieren. Es ist essenziell, die Bevölkerung für die Themen rund um unser Dreisäulensystem zu sensibilisieren und auch aufzuzeigen, wie wichtig es ist, mittels der privaten Vorsorge, der dritten Säule, frühzeitig selbst vorzusorgen.

BVG-Vollversicherung und teilautonome Anschlusslösung

Insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen haben sich bei Firmengründung oder aber periodisch für ein Modell bei der beruflichen Vorsorge (BVG) zu entscheiden. Zur Auswahl stehen einerseits die Vollver­sicherungslösung und andererseits eine teilautonome Lösung.

Die Versicherungsgesellschaften absorbieren bei Vollversicherungslösungen die zentralen Risiken wie Anlagerisiken, Todesfall, Invali­dität und die Langlebigkeit. Das KMU trägt damit kein Unterdeckungsrisiko und hat so auch keine Nachschusspflicht. Da der Versicherer jederzeit die Solvenz sicherstellen und somit einen Deckungsgrad von 100 % nachweisen muss, kann er nur geringere Anlagerisiken eingehen und dürfte so langfristig die tieferen Anlagerenditen als teilautonome Sammeleinrichtungen ausweisen.

Bei teilautonomen Lösungen werden die Risiken in zwei Kategorien zusammengefasst: Die Todesfall- und Invaliditätsrisiken werden an eine Versicherungsgesellschaft über­tragen. Das Anlagerisiko einschliesslich des Langlebigkeitsrisikos liegt bei der Sammeleinrichtung.

Die Sammeleinrichtungen können kurzfristig Deckungsgrade unter 100 % aufweisen, müssen dann jedoch Sanierungsmassnahmen einleiten, wobei hier der Einbezug der Versicherten möglich ist.

 

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