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Rettet die Gemeindeautonomie

Strukturen hinterfragen Rettet die Gemeindeautonomie

Gemeindestruktur

Dr. Kurt Weigelt, Direktor IHK

Föderalismus und Subsidiaritätsprinzip sind Erfolgsrezepte der Schweiz. Trotzdem werden immer mehr Kompetenzen auf Kantons- und Bundesebene verschoben. Die Gemeinden verlieren an Bedeutung, weil häufig die kritische Grösse fehlt, um die komplexen Aufgaben zu bewältigen. Um die Gemeinden wieder zu stärken, müssen die politischen Strukturen hinterfragt werden. Auf der folgenden Doppelseite stellt die IHK drei mögliche Varianten vor, wie der Kanton St.Gallen aussehen könnte.

Die Schweiz ist erfolgreich. Dies nicht zuletzt dank unseren politischen Strukturen. Die direkte Demokratie sorgt dafür, dass sich die offizielle Politik bereits zu einem frühen Zeitpunkt mit neuen Themen und Herausforderungen befassen muss. Der Einbezug des Volkes in Sachentscheidungen stärkt die Identifikation mit den Institutionen. Nicht weniger bedeutungsvoll ist der Föderalismus. Dezentrale Strukturen sind jeder Machtkonzentration überlegen. Gemäss dem Subsidiaritätsprinzip soll alles, was eine politische Ebene leisten kann, nicht von der ihr übergeordneten Ebene oder Instanz übernommen werden. Im Alltag jedoch bewegt sich die Schweiz in die entgegengesetzte Richtung. Immer mehr Kompetenzen werden von den Gemeinden an die kantonalen Verwaltungen und von den Kantonen nach Bundesbern verlagert. Einer der Gründe für diese Entwicklung liegt im institutionellen Stillstand. Wir versuchen in den politischen Strukturen des 19. Jahrhunderts die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen. Auch in diesem Zusammenhang regiert das Besitzstanddenken. Echte Veränderungen sind nur im Mikrobereich und nur unter ganz besonderen Umständen möglich.

Frage nach der kritischen Grösse stellen

Die Regierung des Kantons St.Gallen hält in ihrer Schwerpunktplanung fest, dass unsere Bevölkerung immer mobiler wird. Die Menschen legen längere Wege zwischen Wohn-, Arbeits- und Freizeitort zurück. Räumliche Distanzen werden mit modernen Arbeitsmodellen, mit ortsungebundenen Freizeitaktivitäten und digital gestützten Beziehungsformen überwunden. Territoriale Grenzen verlieren an Bedeutung. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Realität spielt sich immer mehr in funktionalen Räumen und nicht in den Grenzen der Gemeinden und des Kantons ab. Auf dieses Auseinanderfallen der politischen Entscheidungs- und der tatsächlichen Lebensräume haben die formellen Strukturen nur begrenzt Antwort gefunden. Konsequenterweise zählt die St.Galler Regierung das Optimieren der Strukturen zu ihren strategischen Zielen. Dazu gehört die Förderung von Strukturbereinigungen auf kommunaler Ebene. (Kanton St. Gallen, Schwerpunktplanung der Regierung 2017–2027, S. 10 ff.) Die Frage nach der kritischen Grösse einer Institution muss immer wieder neu gestellt und beantwortet werden. Diesbezüglich gibt es keine Unterschiede von staatlichen zu privaten Organisationen. Noch vor einer Generation bildete eine kleine familiengeführte Bäckerei eine taugliche Existenzgrundlage. Heute braucht es in der Regel mehrere Filialen, um effizient produzieren und im Wettbewerb mit industriellen Anbietern bestehen zu können.

Bedeutungsverlust der Gemeinden

Das Auseinanderfallen von politischen und tatsächlichen Entscheidungsräumen zeigt sich im Bedeutungsverlust der Gemeinden. Nur wenige Kommunen sind in der Lage, die ihnen übertragenen Aufgaben eigenständig zu lösen. Dies führt zu einer unendlichen Zahl von unterschiedlichen Organisationen der interkommunalen Zusammenarbeit. Für jeden Bereich werden über die Gemeindegrenzen hinaus neue und immer wieder andere Koalitionen gesucht. Auf der Strecke bleibt die direkte Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger. Öffentliche Ämter sind immer schwieriger zu besetzen. Die mit der interkommunalen Zusammenarbeit verbundene Komplexität wird durch Fachbehörden wie die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde KESB verstärkt. Dazu kommen Bereiche wie die Raum- und Verkehrsplanung oder die Kulturpolitik, in denen die Kantone neue Kompetenzen an sich reissen. Zusammengehalten wird das Gesamtsystem durch den ­Finanzausgleich. In St.Gallen funktioniert die grosse Mehrheit der Gemeinden nur dank kantonalen Ausgleichszahlungen.

Ziele einer Strukturreform

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die rechtliche, finanzielle und politische Gemeindeautonomie ist auf dem Rückzug. Mit den kleinsten politischen Einheiten unseres Landes stehen die Grundwerte unserer Demokratie zur Disposition. Dagegen wehren wir uns. Bei der kritischen Auseinandersetzung mit den aktuellen Strukturen geht es nicht um weniger, sondern um mehr Gemeindeautonomie. Wir wollen starke Gemeinden, die ihre Aufgaben autonom erfüllen können. Es geht um eine leistungsfähige Behördenorganisation auf kommunaler Ebene, die den kantonalen Instanzen auf Augenhöhe begegnet. Und es geht um die Sicherstellung der demokratischen Willensbildung. Staatliche Aufgaben sind von direktdemokratisch legitimierten Instanzen und nicht von Parallelorganisationen wahrzunehmen. Das Milizsystem ist zu stärken.

Denken in Varianten

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass es uns auch bei diesen Fragestellungen nicht an Einsicht, sondern an der Kraft fehlt, gemäss dieser Einsicht zu handeln. Struktur­reformen scheitern nicht an Sachfragen, sondern stolpern über die Geschichte, persönliche Interessen und den Steuerfuss. Und gerade deswegen halten wir es für wichtig, sich mit grundsätzlichen Optionen auseinanderzusetzen. Welches ist die passende kritische Grösse? Welche politische und welche administrative Führung wird den einzelnen Modellen gerecht? Auf welche Art und Weise sichern wir die demokratischen Mitwirkungsrechte?

Bei unseren Überlegungen stellen wir drei Varianten zur Diskussion: Den «Status quo» sowie eine Variante «Evolution», die mit einer idealen Gemeindegrösse von 15'000 Einwohnern rechnet. Dies in der Annahme, dass in dieser Grössenordnung der Spagat von Professionalisierung und persönlicher Nähe am ehesten zu bewerkstelligen ist. Die dritte Option «Revolution» orientiert sich an den Wahlkreisen, rechnet mit einem Bevölkerungsmedian von 45'000 Einwohnern und nähert sich wohl am ehesten den funktionalen Räumen an. Wir sind uns bewusst, dass mit dieser Diskussion kein politischer Blumentopf zu gewinnen ist. Angesichts der anstehenden finanzpolitischen Herausforderungen führt jedoch früher oder später kein Weg an grundlegenden Reformen vorbei. In einer guten Ausgangsposition sind dabei Gemeinwesen, die sich von Rede- und Denkverboten verabschieden und rechtzeitig nach Lösungen suchen. Dass dies möglich ist, hat die Landsgemeinde des Kanton Glarus 2006 eindrücklich bewiesen.


Wie die Gemeindegrenzen im Kanton St.Gallen neu gezogen werden könnten – Drei Modelle im Überblick

PDF icon Download: Mögliche Gemeindemodelle für den Kanton St.Gallen

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