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Zuwarten ist keine Option

Beziehungen Schweiz–EU Zuwarten ist keine Option

Markus Bänziger, Direktor IHK

Im Frühjahr dieses Jahres brach der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU-Kommission über ein institutionelles Rahmenabkommen ab, nach siebenjährigen Verhandlungen und ohne Plan B. Angesichts der Bedeutung der bilateralen Beziehungen ist Zuwarten, Konsultieren und Abwägen unangebracht. Die Ostschweizer Wirtschaft ist auf tragfähige und rechtssichere Beziehungen zur wichtigsten Handelspartnerin angewiesen.

Alles kommt zu dem von selbst, der warten kann. Dieses Sprichwort, könnte man meinen, leitet dieser Tage die offizielle Schweizer Europapolitik. Nachdem der Bundesrat im Mai die Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen mit der EU nach sieben Jahren abgebrochen hat, will er nun einen «politischen Dialog» mit der EU-Kommission führen. Wohlgemerkt soll dieser Dialog stattfinden, nachdem man mit dem einseitigen Entscheid zum Verhandlungsabbruch die EU brüskiert und damit deren Wohlwollen vermutlich endgültig überstrapaziert hat. In einer nicht definierten Frist soll so eine gemeinsame Agenda der Zusammenarbeit definiert werden.

Das Vorgehen des Bundesrats überzeugt nicht

Eine solch vage Vorgehensweise überzeugt im Hinblick auf die wirtschaftlichen Beziehungen mit der EU aus mindestens drei Gründen nicht:

Erstens ist die Position der EU seit Langem bekannt. Unter dem Strich muss, wer am Europäischen Binnenmarkt teilnehmen will, die Regeln dieses Binnenmarkts respektieren. Diese Position ist in weiten Teilen durch das europäische Recht vorgegeben und folglich im Verständnis der EU keine Frage der politischen Diskussion.

Zweitens ist es primär die Schweizer Wirtschaft, die den Preis zahlt. Die Bedeutung des Binnenmarktzugangs für schweizerische Exportunternehmen, insbesondere KMU, wird gemeinhin unterschätzt: 74 % der Industrieexporte in die EU profitieren allein vom Abkommen über den Abbau technischer Handelshemmnisse, das entspricht rund 76 Mrd. CHF von 103 Mrd. CHF pro Jahr (vgl. Grafik). Durch reines Abwarten wird die gleichberechtigte Binnenmarktteilnahme von immer mehr Schweizer Branchen der Vergangenheit angehören, und das auf sehr absehbare Zeit. Gleichzeitig macht die EU auch in anderen Dossiers deutlich, dass die Schweiz ihren Goodwill verspielt hat, wie bei der fehlenden Börsenäquivalenz oder der eingeschränkten Teilnahme am Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe. Verhandlungen zu neuen Abkommen im Interesse der Schweiz, etwa beim Strom, sind blockiert.

Von den Industriegüterexporten in die EU profitieren rund drei Viertel vom nahezu gleichberechtigten Marktzugang in den europäischen Binnenmarkt. Dieser wird durch das MRA sichergestellt. (Quelle: Staatssekretariat für Wirtschaft [SECO])

An den Differenzen mit der EU wird sich, drittens, auch nach einigen Gesprächsrunden mit der Kommission nichts ändern. Die umstrittenen Punkte sind bekannt: Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie, EuGH und dynamische Rechtsübernahme. Für eine fortwährende Teilnahme am Binnenmarkt muss die Schweiz hierbei zu Konzessionen bereit sein.

Die Schweiz muss sich entscheiden

Innenpolitisch muss Klarheit geschaffen werden, müssen die Ziele tragfähig definiert werden. Die entscheidende Frage dabei lautet: Will die Schweiz weiterhin möglichst gleichberechtigt am europäischen Binnenmarkt teilnehmen? Sollte man zur Einsicht kommen, dass der Preis für diese Binnenmarktteilnahme zu hoch ist, ist die Alternative nicht ein «Weiter wie bisher» – das macht uns die EU deutlich. Die Bilateralen waren als Provisorium gedacht; man hätte sie so vermutlich gar nie aushandeln können, wäre die Schweiz zum Verhandlungszeitpunkt nicht Beitrittskandidatin gewesen. Mittelfristig bliebe somit der Rückfall auf das Freihandelsabkommen von 1972 und damit keine gleichberechtigte Teilnahme am europäischen Binnenmarkt. Auch ein modernisiertes Freihandelsabkommen würde eine solche Teilnahme nicht ermöglichen, was etwa das Brexit-Abkommen illustriert. In der Schweiz gibt die Medtech-Branche ersten Anschauungsunterricht, was dies in etwa bedeuten könnte (vgl. Textbox), auch wenn man die Folgen vorgängig nicht vollständig abschätzen kann.

Den bilateralen Weg in die Zukunft führen

Die Vorteile der heutigen Marktzugangsabkommen sind massgeblich. Eine Teilnahme am Binnenmarkt ist nicht Selbstzweck, sondern stärkt unmittelbar den Wirtschaftsstandort. Die Ostschweizer Wirtschaft ist angewiesen auf einen möglichst gleichberechtigten Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Dies bedingt eine zeitnahe Weiterentwicklung dieser Beziehungen, insbesondere die Klärung der institutionellen Fragen. Ein reiner Freihandelsansatz verkennt demgegenüber die Intensität der wirtschaftlichen Beziehungen zur EU. Stattdessen braucht es folgende, ohne Priorisierung aufgeführte Minimalstandards, damit die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts auch in Zukunft gewahrt werden kann:

1. Die bestehenden Marktzugangsabkommen (insb. die Bilateralen I) sind heute und in Zukunft sicherzustellen.

2. Neue Marktzugangsabkommen im Interesse der Schweiz sind zu ermöglichen.

3. Marktzugangsabkommen verfügen über eine juristische Instanz zur Streitbeilegung. Dies stärkt die Rechtssicherheit und schafft die Basis, um sich gegen «Nadelstiche» der EU effektiv wehren zu können.

4. Entscheidet sich die Schweiz, eine Aufdatierung von Abkommensrecht zu verweigern, darf die EU höchstens sachgerechte und verhältnismässige Gegenmassnahmen verfügen, welche die Schweiz durch eine juristische Instanz überprüfen lassen kann. Sachfremde Strafaktionen der EU werden so ausgeschlossen.

5. Institutionelle Besonderheiten der Schweiz, insb. die Elemente der direkten Demokratie, der Föderalismus und die Neutralität, sind in besonderem Masse zu berücksichtigen – so wie dies bei anderen Abkommen mit der EU, die eine dynamische Rechtsübernahme vorsehen, auch gegeben ist (z.B. beim Schengener Abkommen).

Die Diskussion ist lanciert

Die vorgängig formulierten Minimalstandards dienen der IHK St.Gallen-Appenzell als Kompass für europapolitische Alternativen. Davon stehen auch nach dem InstA-Abbruch noch genügend im Raum. Bevor aber über Sinn und Unsinn solcher Alternativen diskutiert wird, sollte die grundsätzliche Frage nach der Binnenmarktteilnahme gestellt werden. Die IHK will diese weiterhin gewährleistet sehen. Es ist davon auszugehen, dass der Souverän dies ähnlich beurteilt, schliesslich wurde die bilaterale Zusammenarbeit in zahlreichen Volksabstimmungen bejaht. Wie auch immer die Antwort aber lautet: Im Verhältnis zur EU würde deutlich mehr Klarheit geschaffen, der Bundesrat hätte ein eindeutiges Mandat zur Klärung der Beziehungen. Der Entscheid würde nicht einfach so lange vertagt, bis die Auswirkungen einer erodierenden Vertragsbasis unübersehbar werden. Dass die Schweiz warten kann, dies hat sie zur Genüge bewiesen – von selbst gekommen sind aber bislang nur Probleme.

Erosion der Bilateralen: Was bedeutet das in der Praxis?

Am selben Tag, als der Bundesrat den Verhandlungsabbruch beim institutionellen Abkommen bekanntgab, lief auch die gegenseitige Anerkennung von Produktbescheinigungen bei der Medizinaltechnik aus. Dies, weil die EU eine Aktualisierung des entsprechenden Abkommens (sog. Mutual Recognition Agreement, MRA) verweigert. Dagegen wehren kann sich die Schweiz kaum: Die Bilateralen kennen keinen verbindlichen Streitschlichtungsmechanismus. Als Konsequenz brauchen Schweizer Exporteure künftig einen haftenden Repräsentanten in der EU (EU-Rep). Produkte müssen gesondert zertifiziert und beschriftet sein. Die Anpassungskosten schätzt der Branchenverband Swiss Medtech auf einmalig 110 Mio. CHF und jährlich wiederkehrende Kosten in der Höhe von 75 Mio. CHF. Bei einem Export von rund 5,5 Mrd. CHF (2019) entspricht das in etwa 1,4 % des Umsatzes und wirkt sich damit direkt auf die Wettbewerbsfähigkeit von Schweizer Unternehmen aus. Schwerer als die Zusatzkosten aber wiegt der mit den regulatorischen Hürden einhergehende Komplexitätsanstieg beim Handel mit der EU. Dieselben Probleme zeigen sich beim Import: Auch hier muss ein ausländischer Anbieter zusätzliche Anforderungen in ähnlichem Umfang erfüllen. Der Zusatzaufwand lohnt sich für den verhältnismässig kleineren Schweizer Markt nicht unbedingt. Als Konsequenz wird von Swiss Medtech damit gerechnet, dass rund ein Achtel aller Medtech-Produkte nicht mehr in der Schweiz verfügbar sein wird. In der mittleren Frist wird der Standort Schweiz wohl zudem an Attraktivität für Investitionen des Sektors einbüssen, da ein Unternehmenssitz in der Schweiz gleichbedeutend mit höheren Regulierungskosten gegenüber einem Sitz in der EU ist.