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Wo IHK draufsteht, ist auch IHK drin

Entwicklung der Wirtschaftsverbände in der Schweiz Wo IHK draufsteht, ist auch IHK drin

Dr. Kurt Weigelt, IHK-Direktor

Die Verbandslandschaft hat sich verändert und insbesondere die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme der Wirtschaftsverbände sind geringer als früher. Die Zeiten, als die Verwaltung auf die Sachkompetenz der Verbände angewiesen war, gehören der Vergangenheit an. Die Wirtschaftsverbände müssen ihre Rolle deshalb neu definieren. Für die IHK St. Gallen-Appenzell bedeutet dies in erster Linie eine Rückbesinnung auf ihre ursprüngliche Funktion als privat-wirtschaftlich organisierte Interessenvertreterin ihrer Mitgliedunternehmen. Im Fokus stehen Themen, die für die Zukunft unseres Wirtschaftsstandortes wichtig sind, die aber mit Blick auf die politische Ökonomie kurz­fristig keine Rendite versprechen.

Am Anfang der IHK St. Gallen-Appenzell standen Fernhändler, die sich in der freien Gesellschaft zum Notenstein versammelten. Neben der Pflege der Gastlichkeit kümmerte man sich in erster Linie um operative Aufgaben, die von den einzelnen Handelshäusern nicht selbst geleistet werden konnten. Dazu gehörte seit dem 15. Jahrhundert der kaufmännische Botendienst. Von besonderer Bedeutung war zudem die Handelsdiplomatie. Weniger engagiert waren die Fernhändler in der Politik vor Ort. Diese dominierte das in Zünften organisierte Handwerk. Dies änderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die mit der Entstehung der modernen Schweiz verbundene Kompetenzverlagerung nach Bundesbern verlangte nach der nationalen Organisation gruppenspezifischer Interessen.

Im Jahre 1870 erfolgte die Gründung des Schweizerischen Handels- und Industrievereins (Vorort), 1879 folgte der Gewerbeverband, 1880 der Gewerkschaftsbund und 1879 der Bauernverband. Noch vor den Parteien wurden die Spitzenverbände zur Beratung von Gesetzesvorlagen herangezogen und mit dem Recht auf ständige Vertretung in den Expertenkommissionen des Bundes ausgestattet. Eine wichtige Rolle spielten die subventionierten Verbandssekretariate, welche die schwache Bundesverwaltung für die Politikformulierung dokumentierten. Beschleunigt wurden diese Integrationsprozesse während des ersten Weltkrieges und den anschliessenden Krisenjahren. Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft entwickelte sich zu einer Mischform von staatlich gelenkter und marktwirtschaftlich offener Ökonomie, in der die Behörden mit den Interessenverbänden Interventionen und Förderungen absprachen. Sozialpartnerschaft und Konkordanz etablierten sich als nicht-kompetitive Muster der Konfliktsteuerung. Über Jahrzehnte galt der Direktor des Vororts, der Vorgängerorganisation von economiesuisse, als achter Bundesrat, der bei der Landesregierung ein und aus ging und es verstand, hinter verschlossenen Türen die Interessen der Wirtschaft durchzusetzen.

Wirtschaftsverbände und neue Politik

Das Bild einer politischen Schweiz, in der alle im gleichen Boot sitzen und dieses nach Absprachen und Verhandlungen gemeinsam durch das stürmische Meer der Weltgeschichte lenken, hat bis heute nichts an Strahlkraft verloren. Als Verbandsvertreter treffen wir uns zu wichtigen Sitzungen, schreiben fleissig Vernehmlassungen und engagieren uns vor Abstimmungen und Wahlen.

So weit, so gut. Nur, hat sich wirklich kaum etwas verändert? Funktioniert unser politisches System noch heute nach den Spielregeln der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts? Spielen unsere Spitzenverbände unverändert die Rolle eines achten Bundesrates? Fliesst unser Expertenwissen in die Arbeit der Verwaltung ein? Eine erste Antwort auf diese Fragen findet man in der vom Staatssekretariat für Wirtschaft seco herausgegebenen Publikation «Die Volkswirtschaft» vom Mai des vergangenen Jahres. Zitiert wird eine Studie, die aufzeigt, dass die Interessenverbände seit 2001 an Einfluss auf die wichtigsten Entscheidungsprozesse verloren haben. Erklärt wird dies mit der Heterogenität der Interessen, dem Bedeutungsverlust traditioneller Politikfelder sowie der Europäisierung und der Mediatisierung der Politik.

13 000 neue Erlasse in zehn Jahren

Angesichts des Absenders nicht ganz überraschend wird der aus unserer Sicht entscheidende Grund nur indirekt angesprochen: Die bereits in den siebziger Jahren von Max Horkheimer beschriebene Totalverwaltung der modernen Gesellschaft. Zwischen 2004 und 2014 ist der Umfang der Bundeserlasse von 54 000 Seiten auf 67 000 Seiten gestiegen. Die öffentliche Hand hat in der jüngeren Vergangenheit monatlich mehr als 500 neue Stellen geschaffen. Alleine das Staatssekretariat für Wirtschaft des Bundes verfügt mit deutlich mehr als 600 Mitarbeitenden über das Zehnfache an personellen Ressourcen als economiesuisse. Und dies, obwohl economiesuisse nicht nur mit der Wirtschaftspolitik im engeren Sinne, sondern auch mit Fragen der Finanz- und Steuerpolitik, der Infrastruktur, von Energie und Umwelt, der Bildung, der Raumpolitik und vielem mehr befasst ist. Der IHK St. Gallen-Appenzell stehen für die Bearbeitung der politisch relevanten Dossiers auf kantonaler und nationaler Ebene weniger als 200 Stellenprozente zur Verfügung.

Die Zeiten, als die Verwaltung auf die Sachkompetenz der Verbände angewiesen war, sind Vergangenheit. Heute werden neue Gesetze und vor allem die vielfach entscheidendere Überarbeitung bestehender Erlasse von einer kaum überblickbaren Zahl an verwaltungsinternen Experten im stillen Kämmerlein erarbeitet. Die traditionellen Mitwirkungsverfahren kommen in der Regel zu spät. Die vorparlamentarische Phase hat an Bedeutung eingebüsst. Auf verschiedenen Ebenen wird daher versucht, den Gang politischer Geschäfte über die von politischen Parteien geprägte Parlamentsarbeit zu beeinflussen. Allerdings gilt dies nicht nur für Verbände, sondern noch viel ausgeprägter für Lobbyisten im Auftrage von Partikularinteressen. Mit dem Bedeutungsverlust der vorparlamentarischen Phase haben die Verbände die über Jahrzehnte von ihnen besetzte Alleinstellung im politischen Prozess verloren. Dies mit spürbaren Konsequenzen für die Wirtschafts­politik. Reparaturversuche im Umfeld parlamentarischer Debatten und bei Volksabstimmungen sind weit weniger erfolgsversprechend als die ursprüngliche Einflussnahme auf die verwaltungsinterne Vorbereitung von Geschäften.

Interessenvertreterin der Mitgliedunternehmen

Diese Analyse ist kein Abgesang auf die Wirtschaftsverbände. Vielmehr begründet sie die Notwendigkeit, sich als Verband neu zu erfinden. Für die IHK St. Gallen-Appenzell bedeutet dies in erster Linie eine Rückbesinnung auf ihre ursprüngliche Funktion als privat-wirtschaftlich organisierte Interessenvertreterin ihrer Mitgliedunternehmen. Wir sind nicht Teil des politisch-administrativen Bereichs. Am politischen Wettbewerb beteiligen wir uns mit eigenen Ideen und Erwartungen. Besondere Bedeutung kommt dabei Themen zu, die für die Zukunft unseres Wirtschaftsstandorts wichtig sind, die jedoch mit Blick auf die politische Ökonomie kurzfristig keine Rendite versprechen. Als branchenübergreifender Verband kämpfen wir nicht für Privilegien einzelner Betriebe oder Branchen, sondern für attraktive wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen. Unverhandelbare Leitlinie ist dabei die formell durch die Statuten und ideell durch unsere Geschichte definierte Ausrichtung auf eine weltoffene, wettbewerbs­orientierte Marktwirtschaft. Wir vertrauen auf Werte und Überzeugungen. Nach unserer Ansicht liegt die Zukunft nicht in geheimen Absprachen hinter verschlossenen Türen, sondern in einer für die interessierte Öffentlichkeit nachvollziehbaren politischen Auseinandersetzung. Dabei kommt den modernen Kommunikationsinstrumenten eine zentrale Bedeutung zu. Unser Ziel ist der direkte Austausch mit unseren Mitgliedunternehmen und der Bevölkerung.

Die IHK St. Gallen-Appenzell ist kein exklusiver Club, sondern steht allen Unternehmen offen, die sich zu unseren Grundsätzen bekennen. Dies alles setzt voraus, dass wir auch finanziell auf eigenen Beinen stehen. Wir funktionieren wie ein Unternehmen und finanzieren unsere Arbeit zusätzlich zu den Mitgliederbeiträgen über den Verkauf von Dienstleistungen. Nur in Ausnahmefällen können wir die immer wieder an uns herangetragene Erwartung erfüllen, unsere Organisation für Aktivitäten und Botschaften von Dritten zur Verfügung zu stellen. Wo IHK draufsteht, muss auch IHK drin sein. Möglicherweise tönt dies alles mehr als nur selbstverständlich. Mit dem traditionellen Selbstverständnis eines Wirtschaftsverbandes des zwanzigsten Jahrhunderts hat dies jedoch nur wenig zu tun. Wir träumen nicht mehr vom achten Bundesrat, von der möglichst grossen Nähe zu verwaltungsinternen und parteipolitischen Entscheidungsträgern, negativ oft als «Filz» oder auch als «classe politique» umschrieben, sondern von einer aktiven, selbstbewussten und unabhängigen Teilnahme am politischen Wettbewerb sowie einer offenen und ehrlichen Zusammenarbeit mit den Behörden und den politischen Parteien. Der Kompromiss gehört nicht an den Anfang, sondern an das Ende der Debatte.