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Von der Geschichte lernen

Wie die Ostschweiz den Strukturwandel im 18. Jahrhundert wiederholt meisterte Von der Geschichte lernen

Die Leinwand – das weisse Gold – stand über Jahrhunderte hinweg für den wirtschaftlichen Erfolg von Stadt und Region St. Gallen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts lief jedoch die Baumwolle der Leinwand den Rang ab. Die immer strikteren Reglementierungen konnten diesen Strukturwandel auch nicht aufhalten. Dank weltoffener und innovativer Unternehmer knüpfte die Ostschweiz aber bald wieder an ihre Erfolge an. Im19. Jahrhundert wurde die St. Galler Stickerei zum wichtigsten Exportprodukt der Schweiz und machte die Ostschweiz zu einer der wohlhabendsten Regionen der Schweiz.

Von Jacob Burckhardt stammt die Erkenntnis, dass Geschichte nicht klug für ein andermal, sondern weise für immer macht. Es geht nicht um Rezepte, sondern um Erkenntnisse. Und diese lassen sich nicht an einzelnen Ereignissen, an Jubiläumsjahren, sondern nur an langfristigen gesellschaftlichen Prozessen festmachen. Dabei interessieren insbesondere die Phasen der grundlegenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Weichenstellungen. Welche Kräfte waren die Treiber der Veränderung? Wer blockierte? Was führte zu radikalen politischen Umwälzungen? Was braucht es, damit eine erfolgreiche Gesellschaft nicht den Anschluss verliert? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, lohnt sich der Blick zurück ins 18. Jahrhundert. Die Ostschweizer Wirtschaft und damit der Wohlstand der ganzen Region stand zur Disposition. Über Jahrhunderte hatte die Leinwand – das weisse Gold – den wirtschaftlichen Erfolg von Stadt und Region St. Gallen begründet. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts setzte jedoch ein Strukturwandel ein, der alles in Frage stellen sollte. Die Baumwolle begann die Leinwand zu verdrängen. Entscheidend für den Niedergang waren jedoch weniger veränderte Kundenbedürfnisse als vielmehr die wirtschaftlichen und politischen Strukturen der Stadt St. Gallen. Die einflussreichen Weberzünftigen wollten ihre Artikel weiterhin nach der aus dem Mittelalter stammenden Produktionsweise herstellen. Dazu gehörte die mit der Zunftverfassung verbundene strikte Reglementierung des Handwerks. Man setzte alles daran, abgeschirmt von äusserer Konkurrenz arbeiten zu können. Die ersten Unternehmer, die im Baumwollgewerbe fabrizierten, zwang man, der Zunft der Leinwandweber beizutreten. Zudem wurden auch auf Baumwollartikeln die leinwandspezifischen Abgaben erhoben. Dies führte zu einer Verlagerung der Produktion ausserhalb der Stadt. Im Jahre 1752 rief der Kleine Rat die «Leinwatcassa» ins Leben, welche finanziell bedrängten Kaufleuten Darlehen gewährte. Bei all diesen wirtschaftspolitischen Massnahmen ging es nicht nur um den Versuch, den Wandel aufzuhalten und die eigenen wirtschaftlichen Privilegien zu sichern. Vom Festhalten an der alten Produktionsweise erhoffte man sich eine Garantie der bestehenden sozialen Ordnung. Alles sollte so bleiben, wie es angeblich einmal war. Eine Illusion, die mit dem Einmarsch der Franzosen im Jahre 1798 jäh zerplatzte. Die Stadtrepublik und mit ihr die Zünfte und die Gesellschaft zum Notenstein wurden liquidiert.

Der Weg aus der Leinwandkrise

Trotz all dieser politischen Abwehrmassnahmen liess sich der Strukturwandel an den Stadtmauern nicht aufhalten. Peter Bion, ein Einwanderer aus Heidelberg, liess als Erster aus Leinen- und Baumwollgarn Barchentstoffe herstellen. Zunehmend offen für Veränderungen zeigten sich auch die vornehmen Kaufleute. Zwar waren diese in eigener Sache alles andere als ordnungspolitische Sonntagsschüler. Da sie jedoch im Gegensatz zu den Zunftherren nicht in Produktionsgüter vor Ort investiert waren und ihr Geld ausserhalb der Stadt verdienten, wollten sie die neuen Chancen nutzen. Im Appenzellischen liessen sie Baumwolltücher weben, die sich zum Bedrucken eigneten. Hans Jacob Kirchhofer stellte als Erster Mousseline-Gewebe her. Als das Geburtsjahr der St. Galler Stickerei gilt das Jahr 1753, als die Firma Gonzenbach, Schlumpf und Söhne die ersten Mousseline-Stücke zum Besticken ins Vorarlberg brachte. Die Handstickerei entwickelte sich rasch und beschäftigte bald einmal Zehntausende von Heimarbeiterinnen. Nach 1865, also rund hundert Jahre später, löste die Verbesserung der Handstickmaschine und die Erfindung der Schifflistickmaschine einen kometenhaften Aufstieg der St. Galler Stickerei aus. Sie wurde vorübergehend zum wichtigsten Exportprodukt und die Ostschweiz zu einer der wohlhabendsten Regionen der Schweiz.

Weltoffen, innovativ und unabhängig

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass weltoffene und innovative Unternehmer die treibenden Kräfte des Strukturwandels im 18. Jahrhundert waren. Wohl kein Zufall ist, dass diese als Einwanderer oder als europaweit tätige Kaufleute in der Stadtpolitik nur eine untergeordnete Rolle spielten. Ihre Unabhängigkeit erlaubte es ihnen, Bestehendes in Frage zu stellen und mit neuen Produkten und vor allem mit einer neuen Produktionsweise auf veränderte Bedürfnisse und Rahmenbedingungen zu reagieren. Der Weg aus der Leinwandkrise führte nicht über politisch motivierte Sicherheitsversprechen und die Garantie des Status quo. Entscheidend waren vielmehr veränderungsbereite Persönlichkeiten, die nicht den mit dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel verbundenen Gegenwind bekämpften, sondern die Segel neu setzten.