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Mythos Milizparlament

Im Nationalrat sitzen immer mehr Berufspolitiker – im Ständerat sowieso Mythos Milizparlament

Robert Stadler

In der Schweiz sind wir stolz auf unser Milizsystem, das auch unseren Parlamenten Realitätssinn und Bodenhaftung verleihen soll. Doch zumindest die eidgenössische Bundesversammlung wird immer stärker von Berufspoltikerinnen und -politikern beherrscht. Rund ein Drittel der Mitglieder des Nationalrates geben als ihren Beruf Politik an – Tendenz steigend. Eine Amtszeitbeschränkung könnte Abhilfe schaffen.

Wer diesen Oktober für das eidgenössische Parlament kandidiert, ist gewarnt: Um auf Bundesebene Legislativpolitik zu betreiben, muss man sich viel Zeit freischaufeln können. Mitglieder des Nationalrates sollten mindestens ein 50%-Pensum dafür einrechnen, im Ständerat ist es aufgrund zusätzlicher Kommissionen sogar noch mehr. Mit dem Milizparlament auf Bundesstufe verhält es sich deshalb gleich wie mit Wilhelm Tell oder der Schlacht von Marignano: Es ist ein Mythos, den wir als identitätsstiftend für die Schweiz ansehen und entsprechend pflegen, der aber nicht viel mit der Realität zu tun hat. Dabei ist die Idee des Milizsystems bestechend: Die Parlamentarier bringen ihre Erfahrungen und ihr Wissen aus dem eigenen Berufsleben ein und sorgen so für eine geerdete und den gelebten Realitäten entsprechende Politik.

Berufspolitiker bald in Überzahl

Vielleicht mag dies bei Neugewählten noch zum Zeitpunkt der erstmaligen Wahl ins Parlament zutreffen. Doch unsere National- und vor allem die Ständeräte mutieren immer häufiger in Kürze zu Berufspolitikern, die von ihrem Amt und den damit einhergehenden zusätzlichen Funktionen abhängen. Eine Untersuchung der Universität Zürich hat diese Entwicklung vor zwei Jahren belegt. Die Studienautorin Sarah Bütikofer verglich die Legislatur 1971−1975 mit jener von 2003−2007 sowie der aktuellen Legislatur. Mehr als die Hälfte aller Ständeräte gibt heute als Beruf Politiker an, vor dreissig Jahren tat dies noch niemand. Im Nationalrat ist heute ein Drittel Vollzeitpolitiker – zehnmal mehr als in den 70er-Jahren. Auch der berufliche Hintergrund hat sich im Laufe der Zeit deutlich verschoben: Im eidgenössischen Parlament sind fast keine Führungskräfte mehr vertreten. Nach der Wahl von Johann Schneider-Ammann in den Bundesrat und den Rücktritten von Christoph Blocher und Peter Spuhler fehlen in der Bundesversammlung die Spitzenleute aus Industrie und Wirtschaft.

Amtszeitbeschränkung als mögliche Lösung

Dieser Entwicklung kann man etwas Gutes abgewinnen: Die heutigen Parlamentarier sind professioneller und gewandter. Dafür sind sie auch immer abhängiger von ihrem politischen Amt. Gerade bei Politikern, die schon während ihres Studiums ins Parlament gewählt wurden wie Lukas Reimann, Christian Wasserfallen oder Cédric Wermuth, kann dies zur Falle werden. Da sie nie einen «richtigen» Beruf ausgeübt haben, dürfte es ihnen besonders schwer fallen, den Ausstieg aus der Politik zu schaffen. Es ist zu befürchten, dass es immer mehr Volksverteter geben wird, die 40 Jahre und länger im Parlament sitzen. Politikerkarrieren werden auch bei uns häufiger. Ob dies der Qualität des Parlamentsbetriebs langfristig zuträglich ist, darf bezweifelt werden.

Es wäre deshalb angezeigt, eine Amtszeitbeschränkung einzuführen. Dies würde nicht nur zu einer konstanteren Blutauffrischung führen, sondern auch den Milizcharakter des Parlaments stärken. Denn jeder Volksvertreter würde von Anfang an sein «Verfallsdatum» kennen und könnte es sich nicht zu gemütlich in der Politik einrichten.

So oder so ist eines gewiss: Auch nach den Wahlen vom 18. Oktober werden wir wieder stolz von unserem Milizparlament sprechen, auch wenn dieses faktisch schon lange keines mehr ist.