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Handel ohne Wandel?

Neue Bedürfnisse und veraltete Rahmenbedingungen hinterlassen Spuren im Einzelhandel Handel ohne Wandel?

Dr. Kurt Weigelt, Direktor IHK

Digitalisierung, Globalisierung, Mobilität, veränderte Familienstrukturen oder der starke Franken: Der Einzelhandel steht unter massivem Veränderungsdruck. Bisher hat es eine unheilige Allianz von gewerblicher Wirtschaft, Landwirtschaft, Gewerkschaften und ­Kirche verstanden, die notwendigen Anpassungen an veränderte Bedürfnisse zu verhindern. Doch ohne eine echte Liberalisierung müssen wir damit leben, dass im ­Einzelhandel schon bald Tausende von Arbeitsstellen zur Disposition stehen werden.

Es gibt kaum eine Branche, die so nahe bei den Endverbrauchern unterwegs ist wie der Einzelhandel. Trends, Modeströmungen, neue Bedürfnisse, dies alles und noch viel mehr zeigen sich am Abend in der Kasse. Einzelhändler segeln hart am Wind. Während Investitionsentscheide langfristig angelegt sind, entscheidet der Konsument kurzfristig, spontan. Er reagiert unmittelbar auf Aktionen und neue Angebote sowie auf die Einkaufs- und Servicequalität eines Anbieters. Einzelereignisse wie die Aufhebung des Frankenkurses führen blitzartig zu einem veränderten Kundenverhalten, die Kaufkraft wandert ab. Aber auch für den Einzelhandel gilt, dass die wirklich fundamentalen Veränderungen weniger in kurzfristigen Herausforderungen als vielmehr im langfristigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel liegen. Dazu gehören neue Familienstrukturen, die Mobilität und die Digitalisierung von Wertschöpfungsketten.

Die neue Wirklichkeit

Früher war die Aufgabenteilung klar. Der Mann arbeitete auswärts, die Frau kümmerte sich um die Kinder und den Haushalt. Dazu gehörte der Einkauf. Doch die Zeiten ändern sich. Noch nie wohnten so viele Schweizerinnen und Schweizer allein wie heute. Die Statistiker zählen mittlerweile 1,3 Millionen Einpersonenhaushalte. Mit 36 % aller Haushalte gehört unser Land weltweit zu den Spitzenreitern. Eine Spitzenstellung nehmen wir auch bei der Erwerbsquote der Frauen ein. Sechs von zehn Frauen gehen hierzulande einer Erwerbstätigkeit nach, rund doppelt so viel wie noch 1960. Die Erwerbsquote von Frauen mit schulpflichtigen Kindern ist sogar höher als diejenige der Frauen ohne solchen Nachwuchs. Dies alles hat direkte Folgen auf das Einkaufsverhalten.

Gleichzeitig steigt die Mobilität. Im Jahre 2010 legten jede Einwohnerin und jeder Einwohner der Schweiz täglich im Durchschnitt rund 37 km zurück. Der Grossteil der Distanzen (66 %) wird mit dem motorisierten Individualverkehr bewältigt. Seit 1980 hat sich der Bestand der Strassenmotorfahrzeuge mehr als verdoppelt. Mit Abstand bedeutendster Verkehrszweck ist die Freizeit. Mit einem Anteil von 24 % folgt die Arbeit, der Einkaufsverkehr macht lediglich 13 % des gesamten Verkehrsaufkommens aus.

Digitalisierung

Parallel zu diesen gesellschaftlichen Veränderungen definieren Digitalisierung und Globalisierung den Einzelhandel vollständig neu. Dabei ist das Online-Shopping nur die Spitze des Eisbergs. Bereits viel deutlichere Spuren hinterlassen hat die Digitalisierung in den Strukturen der Betriebe. Dank der Errungenschaften der Informationstechnologie ist es heute möglich, komplexe Wertschöpfungsketten grenzüberschreitend zu einem prozessualen Ganzen zusammenzufassen. Die digitale Welt funktioniert non-territorial, die geografische Nähe und damit der traditionelle Einzelhandel vor Ort verlieren an Bedeutung. Vertikal integrierte Unternehmen übernehmen in zahlreichen Segmenten den Markt. Noch 1990 befand sich mit C&A lediglich ein Anbieter unter den 25 grössten Einzelhandelsunternehmen der Schweiz. Heute dominieren internationale Handelsketten mit eigenen Sortimenten und Flagshipstores von Herstellern unsere Einkaufsstrassen. Und dabei stehen wir erst am Anfang der Entwicklung. Ganze Branchen wandern ins Internet ab.

Veränderung verboten

Die Ausgangslage ist klar. Der Einzelhandel muss sich verändern. Ladenöffnungszeiten aus Zeiten der traditionellen Familie werden den Bedürfnissen moderner Lebensgewohnheiten nicht mehr gerecht. Die Beschaffung des täglichen Bedarfs findet vor und nach der Arbeit statt. Der Einkauf von Kleidern, Schuhen oder Möbeln dagegen ist schon längst Teil des Freizeitverhaltens. Wie bereits dargestellt, ist dabei die grosse Mehrheit der Bevölkerung mit dem eigenen Auto unterwegs. Die Erreichbarkeit, ein grosszügiges und preiswertes Parkplatzangebot sind entscheidende Erfolgskriterien. Gleichzeitig herrscht dank dem Internet absolute Preistransparenz. Nicht nachvollziehbare Preisdifferenzen im stationären Einzelhandel vor Ort gegenüber Online-Angeboten und den Mitbewerbern im nahen Ausland werden nicht akzeptiert. Nur, dies alles interessiert die politische Öffentlichkeit nicht. Nahrungsmittel werden an der Grenze mit massiven Zöllen belastet und so für die Konsumenten, die in der Schweiz einkaufen, künstlich verteuert. Dies im Interesse der Bauern und auf Kosten der Arbeitsplätze im Einzelhandel, im Tourismus und in der Gastronomie. In vielen Kantonen gelten für den klassischen Einzelhandel unverändert Ladenöffnungszeiten aus Epochen, als Muttern noch am Herd stand und ihre Einkäufe während der Schulstunden ihrer Kinderschar erledigte. Punktuelle Ausnahmen wie Sonntagsverkäufe oder ausserordentliche Abendverkäufe werden von den Behörden nur ausnahmsweise und als obrigkeitsstaatlicher Gnadenakt bewilligt. Und ganz vorbei ist es, wenn der Einzelhandel Parkplätze fordert. Autofahrende Konsumenten sind aus politischer Sicht so etwas wie die Inkarnation des Bösen. Hier greift die staatliche Umerziehungspolitik mit Verboten, Bussen und Gebühren gnadenlos ein. Dies ganz im Sinne von Faust: «Und bist Du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt.»

Unheilige Allianzen

Machen wir uns nichts vor. Der Einzelhandel steht unter massivem Veränderungsdruck. Wer zu spät kommt, den bestraft auch in diesem Zusammenhang das Leben. Dabei liegt es nicht an den Entscheidungsträgern in unseren Einzelhandelsunternehmen. Die Mehrheit hat die Zeichen der Zeit schon längst erkannt. Nur, in der Vergangenheit hat es eine unheilige Allianz von gewerblicher Wirtschaft, Landwirtschaft, Gewerkschaften und Kirche immer wieder verstanden, die notwendigen Anpassungen an veränderte Lebensmodelle und neue Bedürfnisse im politischen Prozess und an der Urne zu verhindern. Dies ist zu akzeptieren. Allerdings ist auch zu akzeptieren, dass ohne eine echte Liberalisierung des Einzelhandels in naher Zukunft Tausende von Arbeitsplätzen in unseren Ladengeschäften zur Disposition stehen. Handel ohne Wandel funktioniert nicht.