Sie sind hier

Die Segel neu setzen

Ohne Investitionen in die Bildung verliert die Ostschweiz den Anschluss Die Segel neu setzen

Dr. Kurt Weigelt

Globalisierung und Digitalisierung haben die Weltwirtschaft grundlegend verändert. Auch die Ostschweiz kann sich vor diesen Transformationsprozessen nicht verschliessen. Doch während sich insbesondere der Arc Lémanique sehr dynamisch entwickelt, verliert unsere Region immer weiter an Boden. Es besteht Handlungsbedarf. Eine intelligente und vorausschauende Bildungspolitik ist der Schlüssel, um die wirtschaftliche Entwicklung einer Region nachhaltig zu verbessern. Mit Investitionen in die Informatik-Ausbildung bleibt unser Industrie- und Werkplatz für die Zukunft gerüstet.

Entwicklung der Schweizer RegionenVon Aristoteles stammt die Erkenntnis, dass man den Wind nicht ändern, die Segel jedoch neu setzen kann. Eine Fähigkeit, die unsere Ostschweizer Unternehmen immer wieder auszeichnete. Die konjunktur- und mode­abhängige Textilindustrie, die über Jahrhunderte unsere Wirtschaft prägte, musste sich ständig neu erfinden. Die in der Veredelung der Leinwand und im Fernhandel erworbenen Fähigkeiten bildeten die Basis für den Aufbau der Baumwollproduktion. Der Ostschweizer Maschinenbau entstand im Gleichschritt mit der Stickereiindustrie. Vieles spricht dafür, dass wir heute wieder an einer Zeitwende stehen. Globalisierung und Digitalisierung haben die Weltwirtschaft grundlegend verändert. Die damit verbundenen Transformationsprozesse treffen die einzelnen Branchen mit unterschiedlicher Radikalität. Dies zeigt sich auch in der Entwicklung der Schweizer Wirtschafts­regionen.

Die Ostschweiz fällt zurück

Besonders dynamisch haben sich seit 2000 die Regionen Arc Lémanique, Zentralschweiz und Zürich entwickelt. Die Ostschweiz befindet sich dagegen bei einer Reihe von zentralen wirtschaftlichen Indikatoren im Rückstand: bei der Entwicklung der Bevölkerung auf dem drittletzten Rang, bei der Entwicklung von Beschäftigung und Exporten auf dem zweitletzten Rang. Insbesondere die schwache Entwicklung der Exporte muss Anlass zur Sorge geben, bildet die MEM-Industrie mit ihren Exporten doch immer noch das Rückgrat der Ostschweizer Wirtschaft. Die Schwierigkeiten zeigen sich seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise und haben sich seit der Aufgabe des Euromindestkurses durch die SNB noch akzentuiert. Als Folge gingen in der Ostschweizer Industrie seit 2008 rund 5 000 Stellen verloren. Diese Zahl ist nicht Ausdruck flügellahmer Unternehmen. Vielmehr haben sich diese im globalen Wettbewerb neu definiert und sind nach wie vor sehr erfolgreich. An die Stelle einer hauptsächlich lokalen Fertigung treten aber vermehrt globale Wertschöpfungsketten. Dies führt zu grossen Gewinnen bei der Produktivität.
Nur, was gut für die Unternehmen ist, ist nicht zwingend gut für die Ostschweiz. Es besteht Handlungsbedarf. Dazu gehört nach Ansicht der IHK St. Gallen-Appenzell die Weiterentwicklung unseres Werkplatzes in Richtung Forschung und Entwicklung. Der öffentlichen Hand kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Dies allerdings nicht im Sinne einer staatlichen Industriepolitik oder von Subventionen und politisch gelenkten Innovationsprozessen. Vielmehr ist es die Bildungspolitik, die mit den richtigen Weichenstellungen die wirtschaftliche Entwicklung einer Region nachhaltig verändern kann. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an eine Aussage von Patrick Aebischer, Präsident der ETH Lausanne: «Der Grossraum Zürich–Basel und der Arc Lémanique sind die beiden Treiber der Schweiz. Hier werden am meisten Stellen geschaffen. Und das nicht zuletzt dank der beiden ETHs.»

IT-Cluster Ostschweiz

Bei allen aktuellen Transformationsprozessen kommt den Informations- und Kommunikationstechnologien eine Schlüsselrolle zu. Dies gilt auch für die Industrie. Die mit dem Begriff «Industrie 4.0» beschriebene Zukunft liegt in der umfassenden Vernetzung von Fabriken, Produkten und Dienstleistungen mit Software. Ein bekanntes Beispiel ist die Produktionsmaschine, die über Sensoren rechtzeitig erkennt, dass ein Werkzeug ausgewechselt werden muss, den Bestand in der Lagerverwaltung abfragt und das benötigte Ersatzteil selbständig bei Lieferanten bestellt. IT-Kompetenzen machen zunehmend den Unterschied. Als IT-Standort ist die Ostschweiz gut aufgestellt. Bereits heute verfügt die Ostschweiz über eine starke Informatik-Industrie. In der St. GallenBodenseeArea beschäftigen knapp 2000 IT-Unternehmen rund 15000 Personen. Dies macht die Gegend zu einem der attraktivsten Schweizer Standorte für die Branche. Was jedoch fehlt, ist die Zusammenarbeit aller Akteure sowie der unbedingte Wille, als IT-Cluster auch international eine führende Rolle zu spielen. Dies möchte die IHK St. Gallen-Appenzell mit drei konkreten Massnahmen ändern.

  • Erstens unterstützen wir die Forderung nach der Einführung von Informatik-Mittelschulen. Von dieser Massnahme versprechen wir uns einen wirkungsvollen Beitrag im Kampf gegen den Fachkräfte­mangel.
  • Weiter erachten wir es als notwendig, dass die Ostschweizer Fachhochschulen zu einer standortübergreifenden Informatik-Strategie finden. Wir müssen vorhandene Fähigkeiten bündeln und Kompetenzzentren aufbauen.
  • Als dritte Massnahme schlagen wir die Einführung eines Informatik-Studiums an der Universität St. Gallen vor. Dank ihrer besonderen Nähe zu den Bedürfnissen unserer Unternehmen erfüllt unsere Universität alle Voraussetzungen, um auch im Bereich der Informatik-Ausbildung sowie der Informatik-Forschung und -Entwicklung eine europaweit führende Stellung aufzubauen.

200 000 Franken für Machbarkeitsstudie

Im Jahre 1898 gründeten die St.Galler Regierung und Vertreter der Wirtschaft in einem gemeinsamen Kraftakt die heutige Universität St. Gallen. Das Kaufmännische Directorium, die Vorgängerorganisation der IHK St. Gallen-Appenzell, spielte dabei eine entscheidende Rolle. Diese enge Verbindung zur HSG und das bevorstehende 550-Jahr-Jubiläum haben den Vorstand der IHK veranlasst, der Universität St. Gallen 200'000 Franken zur Erarbeitung einer Konzept- und Machbarkeitsstudie «Studienschwerpunkt Informatik» zur Verfügung zu stellen. Weiter fordert die IHK, dass das besondere Eigenkapital des Kantons St. Gallen künftig auch für die Stärkung der MINT-Ausbildung eingesetzt werden kann. Die Zeiten schöner Worte sind vorbei. Jetzt sind Taten gefragt.