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Die Ostschweiz fällt zurück

Industrie steht unter Druck - Veränderung tut Not Die Ostschweiz fällt zurück

Dr. Frank Bodmer

Seit der Wirtschaftskrise von 2008 konnten in der Ostschweizer Industrie nur noch der Fahrzeugbau und die Nahrungsmittelindustrie ein Stellenwachstum verzeichnen. Allein im ersten Halbjahr 2015 gingen der Industrie im Kanton St. Gallen rund 1 500 Stellen verloren. Die Zukunft des Industriestandortes Ostschweiz liegt in wertschöpfungsintensiven Bereichen wie Forschung und Entwicklung – es braucht einen Wandel vom Werkplatz in Richtung Denkplatz.

Schwaches Wachstum

Die Ostschweiz fällt seit Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2008 gegenüber dem Rest der Schweiz zurück. Bei zwei zentralen Indikatoren – Bevölkerungs- und Beschäftigungswachstum – waren deutlich schwächere Werte als im schweizerischen Mittel zu verzeichnen (Abbildung 1). Mit anderen Worten hat die Ostschweiz sowohl als Wohnort als auch als Arbeitsort an Attraktivität eingebüsst. Der Rückstand ist bei der Beschäftigung allerdings noch ausgeprägter, was zu einer sinkenden Beschäftigungsquote geführt hat. Vor allem Ostschweizer Regionen in der Nähe des dynamischen Zentrums Zürich konnten ein relativ hohes Bevölkerungswachstum verzeichnen und damit als Wohnort punkten. Es stellt sich damit die Frage, wie insbesondere bei der Beschäftigung eine Rückkehr zu einer erhöhten Dynamik zu erreichen wäre.

Entwicklung Ostschweiz

Die Industrie unter Druck 

Bis 2008 entwickelte sich vor allem die Exportindustrie sehr erfreulich mit Beschäftigungsgewinnen in den MEM-Branchen, dem Fahrzeugbau und der Nahrungsmittel­industrie. Die Exportbranchen wurden durch die Schwäche des Schweizer Frankens und die robuste wirtschaftliche Entwicklung in Europa gestützt. Beide Faktoren fielen nach dem Beginn der Wirtschaftskrise weg. Nach 2008 konnten in der Ostschweizer Industrie nur noch der Fahrzeugbau und die Nahrungsmittelindustrie ein Stellenwachstum verzeichnen (Abbildung 2). Der überwiegende Teil des Beschäftigungswachstums stammte seit 2008 ­dagegen von Dienstleistungsbranchen. Sowohl absolut als auch in Prozentpunkten führend war das Gesundheits­wesen mit einem Zuwachs von rund 4 000 Stellen, gefolgt von wirtschaftsnahen Dienstleistungen und der Bauwirtschaft. Grosse Verlierer waren neben den MEM-Branchen der Detailhandel und die Landwirtschaft.

Deindustrialisierung als Bedrohung

Für die Exportindustrie sind die Herausforderungen seit dem Ende der Euro-Untergrenze noch grösser geworden. Zwar hat sich der Eurowechselkurs in den letzten Monaten in der Nähe von CHF 1.10 stabilisiert. Das Kosten­niveau der Ostschweizer Fertigung bleibt aber auch bei einem solchen Wechselkurs sehr hoch. Zudem besteht immer das Risiko, dass der Schweizer Franken wieder stärker wird. Es ist speziell der Werkplatz Ostschweiz, welcher gefährdet ist. Viele global tätige Ostschweizer Unternehmen bleiben zwar nach wie vor erfolgreich, sie verlagern aber zunehmend arbeits- und damit kostenintensive Bereiche nach Osteuropa oder Asien – oder sie weichen auf Zulieferer im Euro-Raum aus. Als Folge hat die Industrie im Kanton St. Gallen allein im ersten halben Jahr 2015 rund 1 500 Stellen verloren. Und es kann leider nicht damit gerechnet werden, dass diese Entwicklung in den nächsten Jahren wieder rückgängig gemacht wird.

Es besteht Handlungsbedarf

Für die Ostschweiz stellt sich damit die Frage, woher das Wachstum in den nächsten Jahren kommen soll. Eine Forcierung des Wachstums von staatlichen und staatsnahen Dienstleistungen kommt nicht infrage, nachdem dies zusätzliche Staatsausgaben sowie höhere Steuern und Gebühren für die Haushalte nach sich ziehen würde. Und sich an das dynamische Zentrum Zürich anzukoppeln stellt nur für einzelne Regionen eine Option dar. Die Pendeldistanz nach Zürich bleibt für einen Grossteil der Ostschweiz auch nach den Fahrplanverbesserungen beim öffentlichen Verkehr deutlich zu gross. Die Ostschweiz braucht deshalb eine neue Strategie im Bereich Arbeitsort, will sie nicht wirtschaftlich abgehängt werden und zunehmend von Geldern aus dem nationalen Finanzausgleich leben. 

Transformation vom Werk- zum Denkplatz

Die Zukunft des Industriestandorts Ostschweiz dürfte in wertschöpfungsintensiven Bereichen wie Forschung und Entwicklung sowie im Erhalt der Headquarterfunktionen liegen. Die Pharmaindustrie hat diesen Wandel vom Werkplatz zum Denkplatz bereits vor 20 Jahren vollzogen. Es überrascht deshalb nicht, dass sie von den aktuellen Turbulenzen deutlich weniger getroffen wird als die MEM-Industrie. Der Industriestandort Ostschweiz wird sich ebenfalls noch stärker in Richtung Denkplatz entwickeln müssen, will er seine zentrale Bedeutung für die Ostschweizer Wirtschaft behalten. Wichtige Voraussetzungen dafür sind die Möglichkeit, auch weiterhin hochqualifizierte ausländische Arbeitskräfte einstellen zu können, sowie attraktive steuerliche und regulatorische Rahmenbedingungen. Der Wandel vom Werkplatz zum Denkplatz findet im Übrigen bereits jetzt auf breiter Front statt: Vernetzte Produktionsprozesse und ein verstärkter Einsatz der Robotik – Stichwort Industrie 4.0 – ermöglichen eine Automatisierung der Fertigung, das heisst den Ersatz von Arbeit durch Maschinen. Entscheidend für das Bestehen im globalen Wett­bewerb werden aber nicht die Maschinen selber sein, ­sondern die Ideen, welche die Maschinen antreiben. Und hier hat die Ostschweiz immer noch viel zu bieten.

Beschäftigungsentwicklung Ostschweiz