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Besitzstände aufbrechen

Veränderung als politische Herausforderung Besitzstände aufbrechen

Autofahrverbot, Transformation

Dr. Kurt Weigelt, Direktor IHK

In der Tagespolitik holt uns die Vergangenheit ein. Alles soll so bleiben, wie es angeblich einmal war. Mit dem Umfang der Abschottung wächst jedoch nicht die Sicherheit, sondern das Ausmass des mittelfristigen Niedergangs. Auch in der Politik führt kein Weg an grundlegenden Veränderungen vorbei. Dazu gehören die Entstaatlichung ­öffentlicher Aufgaben und institutionelle Reformen.

Wir können es schon fast nicht mehr hören: Digitalisierung und Globalisierung verändern die Welt. Die digitale Transformation ist omnipräsent. Uns allen ist bewusst, dass wir unsere Geschäftsmodelle grundsätzlich hinterfragen müssen. Vieles, was in der Vergangenheit funktionierte, hat keine Zukunft. Nur folgen diesen Worten vielfach keine Taten. Im Gegenteil. Insbesondere in der Tagespolitik holt uns die Vergangenheit ein. Es wird immer schlimmer, so die subjektive Wahrnehmung. Die einen wollen als Antwort darauf Mauern bauen, andere flankierende Massnahmen hochziehen oder den Inländervorrang durchsetzen. Alles soll so bleiben, wie es angeblich einmal war. Make America Great Again! Die Angst vor Veränderung, vor Fremdem und Fremden ist alles andere als ein neues Phänomen. Dies zeigt beispielhaft das Autofahrverbot im Kanton Graubünden.

Fremde Autoprotzen

Am 17. August 1900 verbot die Regierung des Kantons Graubündens «das Fahren mit Automobilen auf sämtlichen Strassen». Und dabei blieb es bis Mitte der Zwanzigerjahre. Der Versuch, das Verbot zu lockern, scheiterte nicht weniger als zehnmal am Stimmvolk. Die Abneigung der Bündner richtete sich unter anderem «gegen die Sportautomobile, mit denen ausländische Millionäre durch unser Land fahren wollen». So die Gasetta Romantscha. Man warnte davor, wegen einiger Silberlinge fremder Autoprotzen die Freiheit der eigenen Strassen zu verkaufen. Die Bauern fürchteten, dass ihre Felder und ­Wiesen von der Staubentwicklung der Stinkkarren in Mitleidenschaft gezogen würden. Fuhrleute und Postpferdehalter sorgten sich um ihren Verdienst. Selbst die Hoteliers bekämpften das neue Verkehrsmittel. Die bisherigen Gäste fühlten sich auch ohne Auto ausgesprochen wohl. Mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs begann sich dies schrittweise zu ändern. Die Schweizer Armee kümmerte sich nicht um das Fahrverbot. Gegen Ende des Krieges kam es zudem wegen Pferdemangels zu einer Transportkrise. Man war froh, Lastwagen einsetzen zu können. Der stärkste Druck zur Aufhebung des Verbots kam aber vom Tourismus. Dieser war durch den Krieg in eine schwere Krise geraten. Die traditionellen Gäste aus Deutschland und Österreich blieben aus. Die Stimmung kippte. Am 21. Juni 1925 entschied eine knappe Mehrheit des Stimmvolkes, die wichtigsten Strassen Graubündens für den Autoverkehr freizugeben.

Entstaatlichung

Diesem bescheidenen Beispiel eines letztlich positiv verlaufenen Anpassungsprozesses an neue Zeiten stehen zahllose historische Begebenheiten gegenüber, bei denen der Widerstand gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen nicht friedlich, sondern mit Gewalt aufgelöst wurde. Je massiver die Staumauern sind, die zur Abwehr des ­sozialen Wandels errichtet werden, umso grösser ist bei deren unvermeidbarem Zusammenbruch der gesellschaftliche Schaden. Mit dem Umfang der Abschottung wächst nicht die Sicherheit der Arbeitnehmer und Produzenten, sondern das Ausmass des mittelfristigen Niedergangs. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Eine Herausforderung, der im Bereich nicht hoheitlicher Staatsaufgaben mit einer konsequenten Entstaatlichung ohne grössere Probleme zu begegnen ist. Mit den elektronischen Medien, dem Gesundheitswesen, der Bildung und der Infrastruktur werden heute ausgerechnet die Wachstumsbranchen einer modernen Dienstleistungsgesellschaft durch die Politik geführt. Dies zum Preis einer überdurchschnittlichen Kostenentwicklung. Überkonsum und Unterfinanzierung sind die zwingenden Folgen jeder staatlichen Umverteilung. Eine moderne Volkswirtschaft braucht weder Staatsmedien noch Staatslogistiker. Auch im Gesundheits- und im Bildungswesen sind Geschäftsmodelle denkbar, die den Kunden stärker in die Verantwortung nehmen und Wettbewerb zulassen. Nur, machen wir uns nichts vor. Politische Systeme, in denen ein Drittel der Erwerbstätigen ihre Existenz in Abhängigkeit von der öffentlichen Hand verdienen, sind auf dem politischen Weg kaum reformierbar. Fundamentale Veränderungen sind erst zu erwarten, wenn das Geld ausgeht. Und dieser Tag wird kommen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

Institutionelle Reformen

Diese doch eher skeptische Sicht dispensiert uns nicht von der Herausforderung, nach institutionellen Reformen zu suchen, die unsere auf Besitzstandwahrung fokussierten politischen Systeme aufbrechen. Zu den möglichen Einzelmassnahmen gehört die Schuldenbremse. Diese zwingt die politischen Entscheidungsträger Einnahmen und Ausgaben über den Konjunkturzyklus hinweg im Gleichgewicht zu halten und verhindert, dass unangenehme Entscheidungen in die Zukunft verschoben werden. Finanzielle Engpässe können nicht über die Verschuldung, sondern müssen auf der Einnahmen- oder Ausgabenseite korrigiert werden. Bisher chancenlos war die Forderung nach einem Verfallsdatum für Gesetze, Verordnungen und Subventionen. Denkbar ist auch eine Koppelung der Staatsausgaben an die wirtschaftliche Entwicklung oder eine generelle Stellenplafonierung im öffentlichen Bereich. Diese Massnahmen würden die Politik zwingen, Prioritäten zu setzen. Letztlich ist aber von solchen Massnahmen nur eine punktuelle Besserung zu erwarten. Was es braucht, ist ein grundsätzlicher kultureller Wandel. Ein Weg dazu ist die Amtszeitbeschränkung für alle Positionen in der nationalen und kantonalen Politik. Nur so kann der systemimmanenten Tendenz zur Besitzstandwahrung wenigstens auf personeller Seite entgegengewirkt werden. Gleichzeitig muss neuen Behördenmitgliedern die Freiheit zugestanden werden, ihre wichtigsten Mitarbeitenden selbst auszuwählen. Der institutionelle Zwang zur Erneuerung wird unsere legislativen und exekutiven Behörden grundlegend verändern. Dazu gehört die Stärkung des Milizprinzips. Der Umstand, dass bestehende Seilschaften regelmässig herausgefordert werden, ist weit wichtiger als der in diesem Zusammenhang befürchtete Verlust an Erfahrungen und Kompetenzen. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass eine Amtszeitbeschränkung die notwendige Durchlässigkeit von privater und politischer Laufbahn fördert. Zumindest in diese Richtung weist die amerikanische Tradition, die bemerkenswerterweise die Amtsdauer für das einflussreichste politische Amt der Welt auf acht Jahre begrenzt. Auch in diesem Zusammenhang wird das Bedürfnis nach Besitzstandwahrung jedoch den entsprechenden Reformen entgegenstehen. Kaum ein Mandatsträger schafft sich selber ab. Dies zeigt die aktuelle Entwicklung im Landrat des Kantons Baselland. Eine knappe Mehrheit des Parlamentes überwies kürzlich eine parlamentarische Initiative, die die bestehende Amtszeitbeschränkung abschaffen will. Bemerkenswerterweise als Vorstoss einer Partei, die sich dem Kampf gegen das politische Establishment verschrieben hat, und gegen den Willen der Ratslinken.