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«Wirtschaft und Politik driften auseinander»

Interview mit IHK-Direktor Kurt Weigelt zu den eidgenössischen Wahlen «Wirtschaft und Politik driften auseinander»

Robert Stadler

Vor den eidgenössischen Wahlen wird einmal mehr beklagt, dass ­sich zu wenig Unternehmerinnen und Unternehmer als Parlamentarier zur Verfügung stellen. Den Grund dafür erkennt IHK-Direktor Kurt Weigelt primär in den unterschiedlichen Interessen von Politik und Wirtschaft. Er empfiehlt, vom Panaschieren Gebrauch zu machen: Man solle Wirtschaftsvertreter ins Parlament wählen – unabhängig vom Parteibuch.

Unsere Parteien stehen mitten im Wahlkampf. Mit welchen Resultaten rechnen Sie?

Kurt Weigelt: Wie immer wird es kleinere Veränderungen geben, und die Parteien werden ebenfalls wie gewohnt jeden einzelnen Sitz­gewinn als historisch feiern. Die wirklich grundlegenden Bewegungen im Parteiensystem ­haben wir allerdings schon länger hinter uns.

Wo sehen Sie diese Brüche?

Das traditionelle Parteiensystem der Schweiz baute auf dem Konfessions-, Föderalismus- und dem Klassenkonflikt auf. Dies änderte sich in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Die neuen, gesellschaftlich relevanten Fragen wie die Stellung der Frau in der Gesellschaft, der Umweltschutz oder die Einwanderung verlaufen quer durch die traditionellen Konfliktfronten. Dies beflügelte den Aufstieg von Parteien, die sich wie die SVP oder die Grünen auf einzelne Themen fokussieren.

Sind diese Veränderungen niciht Ausdruck der Anpassungsfähigkeit unseres politischen Systems?

Durchaus. Nicht zuletzt dank der direkten Demokratie kommen bei uns neue Themen sehr rasch auf die politische Agenda. Problematisch ist jedoch, dass diese Veränderungen zu keinen grundlegenden Anpassungen im Regierungssystem führen. Die gleichen Parteien, die sich in den Parlamenten sowie mit Initiativen und Referenden gegenseitig lahmlegen, spielen in der Regierung Konkordanz und machen auf Friede, Freude, Eierkuchen. Man will gleichzeitig Regierung und Opposition sein. Das ist Unsinn und blockiert grundlegende Veränderungen.

Was müsste sich Ihrer Ansicht nach ändern?

Regierungen sollten künftig durch Parteien gebildet werden, die sich in den entscheidenden Fragen auf ein gemeinsames Programm einigen können. Die Nicht-Regierungsparteien verfügen dank der direkten Demokratie über starke Instrumente, der Regierungsmehrheit auch zwischen den Wahlen Grenzen zu setzen. Referendum und Initiative sind keine Bedrohung der nationalen Einheit, sondern topaktuelle Werkzeuge des politischen Wettbewerbs.

Ist dieser Reformstau ein Grund für das Desinteresse vieler Unternehmer an einem politischen Engagement?

Dies spielt sicher eine Rolle. Für Unternehmerinnen und Unternehmer, die lösungsorientiert arbeiten, ist die mit dem politischen Schattenboxen verbundene Ineffizienz nur schwer zu akzeptieren. Aber auch in diesem Zusammenhang liegen die wirklich entscheidenden Gründe tiefer.

Und wo sehen Sie diese?

Die Koordinatensysteme der Wirtschaft und der Politik haben sich in den vergangenen 25 Jahren unterschiedlich entwickelt. Unsere Unternehmen bewegen sich innerhalb der beiden Achsen globaler Wettbewerb und Veränderung, das Koordinatensystem der Politik wird durch die beiden Achsen nationale Gesetzgebung und Besitzstandwahrung definiert. Die Absenz von Unternehmensvertretern in unseren Parlamenten ist nicht Ausdruck von fehlendem Gemeinsinn, sondern widerspiegelt die unterschiedliche Interessenlage, das Auseinanderdriften von Wirtschaft und Politik.

Können Sie dies konkretisieren?

Dies zeigt sich beispielsweise beim Faktor Zeit. Mit einer bemerkenswerten Planungsgläubigkeit wird heute in der Politik festgelegt, dass das Toggenburg bis ins Jahr 2040 um 527 Personen wachsen darf. Das Bundesamt für Energie kennt den Schweizer Energiemix im Jahre 2050. Und kurz nach dem Frankenschock beschliesst der St.Galler Kantonsrat für das kommende Jahr eine Reallohn­erhöhung für die Staatsangestellten. Erstaunlich! Ganz anders sieht es in unseren Unternehmen aus. Hier gilt es, über Nacht Massnahmen zur Bewältigung der Aufwertung des Schweizer Frankens um rund 20% zu verabschieden. Statt Lohnerhöhungen für das nächste Jahr gibt es Arbeitszeitverlängerungen und Lohnreduktionen beim Kader. Technologische Quantensprünge machen aus Erfolgsprodukten innert kürzester Zeit Ladenhüter. Diese Erfahrungen stehen in einem fundamentalen Widerspruch zum totalen Plan- und Machbarkeitsglauben von Ver­waltung und Politik.

Dies klingt nun aber sehr resigniert.

Grundsätzlich bin ich ein optimistischer Mensch. In Bezug auf die Reformbereitschaft von Verwaltung und Politik habe ich jedoch in der Tat Bedenken. Gleichzeitig bin ich aber überzeugt, dass nicht nur der gesellschaftliche und der wirtschaftliche, sondern auch der politische Wandel nicht aufzuhalten ist. Die IHK St.Gallen-Appenzell kämpft deshalb auch bei unpopulären Themen wie der Altersvorsorge oder in der Arbeitsmarktpolitik für rasche und konsequente Reformen. Dies im Interesse der einzelnen Menschen und ihres Anspruchs auf eine individuelle, selbstbestimmte Lebensgestaltung.

Welche Konsequenzen ziehen Sie aus diesen Überlegungen für die bevorstehenden Wahlen?

Für unsere Anliegen ist es entscheidend, dass wir die Kandidierenden mit einem unternehmerischen Hintergrund geschlossen unterstützen, und zwar über die Parteigrenzen hinweg. Als kantonaler Wirtschaftsverband haben wir nicht die Kraft, die politische Grosswetterlage zu verändern. Es fehlen uns auch die Mittel, um wirtschaftsferne Bevölkerungsgruppen von der Notwendigkeit einer arbeitsplatzorientierten Politik zu überzeugen. Wir haben aber die Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass innerhalb der einzelnen Listen die Wirtschaftsvertreter möglichst gut abschneiden. Dies setzt voraus, dass wir von den Möglichkeiten des Panaschierens Gebrauch machen und unabhängig von der Parteifarbe Unternehmensvertreter wählen.

Mit anderen Worten, es geht nicht mehr um Positionen.

Selbstverständlich gibt es auch innerhalb der Wirtschaft unterschiedliche Positionen. Wir können nicht Vielfalt fordern und in eigener Sache Uniformität verlangen. Mit unserem Sonderheft und der Online-Plattform wir-wählen-wirtschaft.ch wollen wir diese unterschiedlichen Positionen transparent machen. Gleichzeitig bin ich aber der festen Über­zeugung, dass ein direkter Bezug zu den ­Herausforderungen der realen Wirtschaft, ­unabhängig von der Parteifarbe, viele Fehl­entscheidungen verhindern kann.