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«Wer geliebt werden will, ist für Führungsaufgabe nicht geeignet»

FDP-Ständerätin Karin Keller-Sutter über Führung in der Politik «Wer geliebt werden will, ist für Führungsaufgabe nicht geeignet»

Ständerätin Karin Keller-Sutter

Robert Stadler, Leiter Kommunikation / stv. Direktor IHK

Seit 2011 vertritt die ehemalige St. Galler Regierungsrätin den Kanton St. Gallen im Ständerat. Im Interview mit IHKfacts äussert sie sich über die Besonderheiten politischer Führung, wie man als Parla­mentarierin Vorlagen beeinflussen kann oder das zum Teil geringe Bewusstsein über finanzielle und praktische Folgen von Gesetzen. Weiter beschäftigen wird die Wilerin zum Beispiel die Vereinfachung der Arbeitszeiterfassung oder die Reform der Altersvorsorge.

Herzliche Gratulation zu Ihrer Wahl zur ersten Vizepräsidentin des Ständerates. Damit dürften Sie turnusgemäss im kommenden November zur Präsidentin der kleinen Kammer gewählt werden. Haben Sie sich schon überlegt, wie Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen führen werden?

Karin Keller-Sutter: Der Präsident oder die Präsidentin vertritt den Ständerat gegen aussen, sollte sich in seiner Führung aber nicht selbst in den Vordergrund stellen. Wichtig ist die transparente und klare Abwicklung der Geschäfte. Im Ständerat kann im Unterschied zum Nationalrat jedes Mitglied zu jedem Geschäft sprechen. Eine Redezeitbeschränkung gibt es nicht. Der Rat ist also auf Eigenverantwortung ausgelegt.

Worin liegt der Reiz, die kleine Kammer zu leiten oder eben zu führen? Welche Führungsverantwortung kann man als Ratspräsidentin übernehmen?

Als Ratspräsident präsidiert man auch das Büro des Ständerates und ist damit für die Vorbereitung und Abwicklung der Sessionen verantwortlich. Zudem entscheiden die Präsidenten beider Räte über die Zuteilung von Geschäften. Wer Erstrat ist, ist teilweise ein Politikum. Die Bundesräte wünschen sich bei komplexen Geschäften oft den Ständerat als Erstrat. Zwischen den Präsidenten beider Räte und dem Bundesrat gibt es zudem einen regelmässigen Austausch.

Einen Rat zu leiten, ist das eine, als Legislativpolitikerin politische Dossiers inhaltlich mitzuprägen, das andere. Kann man als Parlamentarierin überhaupt politische Dossiers «führen» oder ist man da weitgehend auf den Bundesrat angewiesen, der dem Parlament Vorlagen zuführt?

Das Parlament berät nicht nur die Vorlagen des Bundesrates, sondern kennt auch das Instrument der parlamentarischen Initiative, mit der die Gesetzgebung in der zuständigen Kommission erfolgt. Das Parlament kann auch sonst Führung übernehmen. Ich erinnere an die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative und überhaupt an die Europapolitik. In dieser Frage war der Bundesrat praktisch abwesend und hat den Ball dem Parlament zugespielt. Ähnliches werden wir bei der Beratung der RASA-Initiative erleben. Interessant ist auch, dass sich das Parlament nicht mehr jede Vorlage «bieten» lässt. So wurden z. B. das Versicherungsaufsichtsgesetz und das Tabakproduktegesetz aufgrund ihrer Regulierungsdichte an den Bundesrat zur Überarbeitung zurückgewiesen.
Was mich besonders freut, ist, dass gemäss Sorgenbarometer der Credit Suisse der Ständerat die politische Institution in der Schweiz ist, die das grösste Vertrauen in der Bevölkerung geniesst – noch vor dem Bundesrat.

Die Legislative legt die gesetzlichen Rahmenbedingungen fest und übernimmt damit grosse Verantwortung, um unser Land für die Herausforderungen der Zukunft fit zu machen. Wie sehen Sie diese Führungsverantwortung gegenüber dem Volk?

Nicht nur gegenüber dem Volk, sondern auch gegenüber der Wirtschaft. Ich stelle fest, dass gewissen Teilen der Verwaltung kaum bewusst ist, welche finanziellen und praktischen Folgen mit einem Gesetz ausgelöst werden. Dass Volk und Wirtschaft die oft entstehenden Mehrkosten schon irgendwie finanzieren können, wird als gottgegeben vorausgesetzt. Viele Lösungen sind kaum praxistauglich und sehr teuer. Die Gesetze auf ein vernünftiges Mass zurückzustutzen, ist oft ein Kampf um Millimeter. Dabei ist es wichtig, dass in den Kommissionen Ständeräte sitzen, die z. B. über ihre Mandate in der Wirtschaft wissen, wie die Wirtschaft funktioniert und welche Auswirkungen ihre Arbeit auf die Bevölkerung hat.

Als Ständerätin sind Sie auch Mitglied der FDP-Fraktion. Die frühere Fraktionschefin Gabi Huber war berühmt-berüchtigt für ihre strikte Führung. Sie trimmte die Fraktion so auf einen einheitlicheren Kurs. Wie lassen sich Bundesparlamentarier überhaupt führen und wie wichtig ist dies für eine zielgerichtete Politik?

Im Nationalrat, der parteipolitisch gewählt und orientiert ist, ist die Geschlossenheit sehr wichtig. Im Ständerat stimmen die Mitglieder nach ihrer eigenen Überzeugung; es gibt bei uns auch gar keine Fraktionen. Die Entscheide sind oft auch von regionalpolitischen Abwägungen geprägt. Auch Gabi Huber hat sich an uns Ständeräten zuweilen die Zähne ausgebissen. Ich stimme konsequent nur nach meinen Überzeugungen und gemäss den Interessen der Ostschweiz. Meine persönliche Haltung hat also stets Vorrang vor der Parteipolitik oder auch allfälligen Mandaten, die ich wahrnehme. Wer mich kennt, weiss, dass ich mich nicht verbiege.

Vor Ihrer Wahl in den Ständerat waren Sie während zwölf Jahren als St. Galler Regierungsrätin Exekutivpolitikerin. Was sind in Sachen Führung die Unterschiede zur heutigen Tätigkeit?

Die Exekutive ist eine Führungstätigkeit, die ich übrigens sehr geschätzt habe. Ich war gerne Departementschefin, habe gerne geführt und auch Entscheide gefällt. Im Parlament geht es darum, Vorlagen, die meist vom Bundesrat kommen, in eine Richtung zu prägen und zu beeinflussen. Dazu muss man überparteiliche Allianzen mit Kollegen schmieden. Dabei darf man keine Berührungsängste haben. Zudem gibt es taktische Spiele. Man muss antizipieren, welche Fraktion sich am Schluss wie verhält. Die Arbeit im Parlament ist damit eher mit einem Schachspiel vergleichbar.

Wie funktioniert Führung in der Politik überhaupt? Gibt es Unterschiede zu einer Führungsfunktion in der Wirtschaft?

In Politik und Wirtschaft braucht es Leadership. Es braucht Führungskräfte, die den Willen haben, etwas durchzusetzen – auch gegen Widerstände. Wer immer geliebt werden will, ist für eine Führungsaufgabe nicht geeignet. Ein Chef oder eine Chefin sollte zudem berechenbar sein. Zudem muss man den Mut haben, auch unbekanntes Gelände zu betreten, sonst gibt es keine Entwicklung. Im Unterschied zur Wirtschaft braucht es in der Politik mehr taktisches Geschick und Verständnis für politische Abläufe. Prozesse müssen auf der inhaltlichen und zeitlichen Achse analysiert und entsprechend gestaltet werden. In der Politik kann man nicht einfach von oben nach unten entscheiden, sondern muss Mehrheiten schaffen, Widerstände abbauen, Gespräche führen. Das braucht Zeit und Nervenstärke. Das politische Handwerk kann nur bedingt erlernt werden. Entweder man ist ein politischer Kopf oder eben nicht.

Sie sind Mitglied der wichtigen Kommission für Wirtschaft und Abgaben. Welches sind die wichtigen politischen Themen der kommenden Monate, welche die Wirtschaft besonders betreffen und deren Sie sich annehmen möchten?

Ich habe einen Vorstoss zur Vereinfachung der Arbeitszeiterfassung eingereicht. Das geltende Arbeitsgesetz haucht den Geist des Fabrikzeitalters und muss modernisiert werden. Ich bin zuversichtlich, dass wir hier Mehrheiten finden. Dann werden wir die Vorlage zur Altersreform 2020 zu Ende beraten. Der AHV-Ausbau, so wie ihn der Ständerat vorsieht, ist inakzeptabel und verschärft die strukturellen Probleme der AHV. Ziel der Reform ist der Leistungserhalt; einen Leistungsausbau auf Kosten der künftigen Generationen und der Wirtschaft können wir uns nicht leisten. Dann müssen wir insgesamt Sorge tragen zu den Stärken der Schweiz. Es besteht eine Tendenz, sich überall angleichen zu wollen. Vielmehr sollten wir uns bei jedem Gesetz fragen, wo trotz internationalem Druck noch Gestaltungsraum besteht, wo wir uns gegenüber dem Ausland stärken und abgrenzen können. Wir müssen vermehrt die Interessen der Schweiz in den Vordergrund stellen.