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«Von müssiggengern und köfflüt»

Weshalb 1466 als Gründungsjahr der heutigen IHK St. Gallen-Appenzell gilt «Von müssiggengern und köfflüt»

Schon die St. Galler Fernhändler des 15. Jahrhunderts hatten mit Einschränkungen im Warenverkehr zu kämpfen: Zölle, Währungsschwierigkeiten und protektionistische Wirtschaftszweige stellten die Herausforderungen dar. 1466 gründeten St. Galler Kaufleute die Gesellschaft zum Notenstein, die Vorgängerin der heutigen IHK St. Gallen-­Appenzell, um gemeinsam für freiheitliche Rahmenbedingungen einzustehen. Die Geschichte der IHK hält noch viele historisch wichtige Daten parat: Die Marktordnung von 1637, die Überführung in die Kaufmännische Corporation 1730 oder die Fusion von Kaufmännischer Corporation und dem Handels- und Industrieverein im Jahr 1991.

Bekanntlich gibt es nichts Neues unter der Sonne. Dies gilt auch für die Herausforderungen im grenzüberschreitenden Warenverkehr. Die St. Galler Fernhändler, die ab dem 15. Jahrhundert mit ihrer Leinwand ganz Europa bedienten, hatten mit Logistikproblemen zu kämpfen. Ihre Transporte blieben oft tagelang liegen. Behindert wurde der Fernhandel zudem durch Abgaben am Bestimmungsort und durch Brücken- und Durchfuhrzölle. Dazu kamen Währungsschwierigkeiten. Die wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigten aber auch hausgemachte Vorschriften. Die Zunftverfassung der Stadt St. Gallen schützte das heimische Handwerk. Der Einfuhr von Leinwand aus Übersee, dem Allgäu, stand man ablehnend gegenüber. In St. Gallen hergestellte oder gehandelte Artikel mussten hier gebleicht und gefärbt werden. Dies alles, so Hans Rudolf Leuenberger in seinem Buch zum 500-Jahr-Jubiläum der Kaufmännischen Corporation, förderte den Schulterschluss der Fernhändler. Ein früher Hinweis auf eine Gesellschaft der Kaufleute findet sich um 1350. Im Stadtsatzungsbuch gibt es die Bestimmung, dass die Ratsherren sowie die «müssiggenger und die köfflüt» gehalten waren, bei inneren Unruhen direkt den Bürgermeister aufzusuchen. Dies im Gegensatz zu den Mitgliedern der Zünfte, deren erste Anlaufstelle der Zunftmeister war. Die erste urkundlich nachweisbare Organisation der St. Galler Kaufleute bildete die Gesellschaft zum Notenstein, «deren Anfang war auf 15. August 1466».

Welches Datum ist zu feiern?

Nun kann man sich natürlich zu Recht fragen, ob es legitim ist, das Jahr 1466 als Gründungsdatum der IHK St. Gallen-Appenzell zu feiern. Wäre das passende Ereignis nicht vielmehr die Marktordnung von 1637 oder das Jahr 1730, als sich die aus der Gesellschaft zum Notenstein her­ausgewachsene Kaufmannschaft als Kaufmännische Corporation ein eigentliches Organisationsstatut gab? Oder gehören wir gar zur Generation Y? 1991 fusionierten der Handels- und Industrieverein und die Kaufmännische ­Corporation zur heutigen Industrie- und Handelskammer St. Gallen-Appenzell.

Tatsache ist, dass im Jahre 1966 die Kaufmännische Corporation unter grosser öffentlicher Anteilnahme ihr 500-Jahr-Jubiläum feierte. Und ebenfalls offensichtlich ist, dass die gemeinsame Interessenwahrung der Kaufleute in St. Gallen eine jahrhundertealte Tradition hat. Der Bezug auf das Jahr 1466 hingegen hat weniger einen operativen als einen politischen Hintergrund. Nach dem Sonderbundskrieg und der Staatsgründung im Jahre 1848 war die Schweiz in besonderem Masse darauf angewiesen, die Einigung im Innern zu fördern. Ihren Höhepunkt erreichte die nationale Versöhnungskultur vor der Jahrhundertwende. In Schriften, Denkmälern, Umzügen, Schützenfesten und Landesausstellungen feierte man die Freiheitskriege der alten Eidgenossen und das Schweizer Alpenland als die zentralen Elemente einer spezifisch nationalen Identität. Dazu gehörte, dass man die eigenen Anfänge in möglichst frühe Zeiten zurückverlegte und mittels historischer Dokumente zu belegen versuchte. 1891 erklärte man den Bundesbrief von 1291 zur Gründungsurkunde der Schweiz.

Rückversicherung in der Geschichte

Es war wohl auch dieser zeitgeschichtliche Zusammenhang, der das älteste bekannte Mitgliederverzeichnis der Gesellschaft zum Notenstein und damit das Jahr 1466 an den Anfang unserer Organisation stellte. Die historische Dimension diente als Anker in einer Zeit, in der Gewohntes verschwand und Neues entstand. Je unaufhaltsamer ein Modernisierungsprozess voranschreitet, desto stärker scheint das Bedürfnis nach Rückversicherung in der eigenen Geschichte zu sein. Eine Erfahrung, die bis heute nichts an Aktualität verloren hat.