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Vollständige Erholung der Wirtschaft braucht noch längere Zeit

Konjunktur: Der globale Blick Vollständige Erholung der Wirtschaft braucht noch längere Zeit

Dr. Klaus Abberger, Leiter Forschungsbereich Konjunkturfragen der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich

Die Covid-19-Pandemie hat im Frühjahr vergangenen Jahres zu einem enormen Einbruch der globalen Produktion geführt. Auch wenn im Sommer eine deutliche Gegenbewegung eingesetzt hat, dürfte diese Rezession die Weltwirtschaft so massiv getroffen haben wie kaum eine andere Krise der vergangenen Jahrzehnte. Ein Rück- und Ausblick.

Der Euroraum – unser wichtigster Handelspartner – erlebte im zweiten und schlimmsten Quartal der Krise einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von fast 12 %, mit den entsprechenden Folgen für die Schweizer Exportwirtschaft. Das BIP der USA sank um 9 %. Auch viele Schwellenländer wurden hart getroffen. Nur China expandierte gemäss offi­ziellen Zahlen im zweiten Quartal sehr stark und erholte sich damit auf gesamtwirtschaftlicher Ebene vollständig vom coronabedingten Einbruch zu Jahresbeginn. Mit den Lockerungen der Massnahmen zur Unterbrechung der Infektionsketten nahmen die europäische und die globale Wirtschaft aber insgesamt wieder Schwung auf. Die Schweizer Wirtschaft machte im Sommer ein gutes Stück des Corona-Verlustes des ersten Halbjahres wieder wett. Nach Angaben des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) stieg das reale BIP im dritten Quartal um 7,2 %. Im zweiten Quartal war es noch um 7 % und im ersten Quartal um 1,7 % gesunken. Trotz der beachtlichen Belebung im Sommer war das BIP im dritten Quartal um etwa 2 % tiefer als im vierten Quartal 2019, in dem Corona noch nirgends eine Rolle spielte.

Starker Transithandel führt zu verzerrtem Bild

Für das gesamte Jahr 2020 geht die KOF von einer jahresdurchschnittlichen Abnahme des BIP um 3,5 % aus. Im internationalen Vergleich wirkt dieser Rückgang milde. Allerdings steuert der Transithandel einen positiven Wachstumsbeitrag von schätzungsweise 1,5 Prozentpunkten bei. Beim Transithandel kaufen und verkaufen Schweizer Unternehmen Waren im Ausland, ohne dass diese in die Schweiz gelangen. Vor allem sind diese Waren Rohstoffe, aber in jüngster Zeit wird auch vermehrt konzerninterner Handel mit Pharmaerzeugnissen als Transithandel organisiert. Der Handels­gewinn dieser Tätigkeit ist Teil der Schweizer Wertschöpfung. Zwar ist diese Zurechnung gerechtfertigt, doch kann sie auch die Sicht auf die konjunkturelle Dynamik trüben, da in der Regel die Beschäftigungseffekte dieser Wertschöpfung geringer sind als in den meisten übrigen Bereichen. Würde daher der Wachstumsbeitrag des Transithandels von der übrigen Wirtschaftsleistung abgezogen, wäre das BIP in der Schweiz vergangenes Jahr um etwa 5 % gesunken. Damit wäre der Rückgang in etwa vergleichbar mit dem der deutschen Volkswirtschaft oder dem OECD-Durchschnitt, die jeweils etwa 5 % geschrumpft sein dürften.

Zweite Welle, doch Auswirkungen auf Gesamtwirtschaft geringer

Im Herbst kam die befürchtete zweite Pandemiewelle. In vielen Ländern und in der Schweiz wurde etwas anders durch die Politik reagiert als auf die erste. Die Schutzmassnahmen wurden punktueller und vor allem auch regionaler gehandhabt. Die KOF versucht, die Stärke der Massnahmen durch den KOF Stringency-Plus Index messbar zu machen. War die Stärke während der ersten Welle in der Schweiz einheitlich, gingen die Kantone nach dem Sommer unterschiedliche Wege. In der Ostschweiz ging die Stärke der Einschränkungen kaum über die schweizweite hinaus. Während der Kanton St. Gallen bezüglich der Striktheit der Massnahmen auf dem Niveau der nationalen lag, war der Kanton Thurgau strenger. Im Dezember verstärkte der Bundesrat aber die landesweiten Regelungen. Im Januar folgte eine weitere deutliche Verschärfung, mit ausgelöst durch Unsicherheiten wegen einer Mutation des Virus. Nun mussten auch viele Detailhändler schliessen. Die durch die zweite Corona-Welle ausgelösten Einschränkungen sowie die Verhaltensänderungen in der Bevölkerung und die vergleichbare Situation im Ausland führen zu einer harzigeren wirtschaftlichen Entwicklung im vierten Quartal 2020 und zu Beginn dieses Jahres. Obwohl die Pandemie im Herbst mit Wucht zurückgekehrt ist, sind die wirtschaftlichen Auswirkungen nicht so stark wie während der ersten Welle. Die Intensität der Pandemie überträgt sich nicht mehr so unmittelbar in die gesamtwirtschaftliche Aktivität wie im Frühjahr.

Langer Atem und Durchhaltewille gefragt

Die Wirtschaft in der Ostschweiz – hier definiert als die Kantone Appenzell Ausserrhoden und Innerrhoden, St. Gallen sowie Thurgau – trägt knapp 10 % zur Schweizer Wirtschaftsleistung insgesamt bei. Prägend für die Ostschweizer Wirtschaft ist die Wichtigkeit des produzierenden Gewerbes (verarbeitendes Gewerbe, Baugewerbe). Es steuert mehr als ein Drittel zur Wertschöpfung in der Region bei und damit deutlich mehr als im schweizerischen Gesamtdurchschnitt (knapp ein Viertel). Ein starkes verarbeitendes Gewerbe bedeutet auch eine intensive Einbindung in internationale Wertschöpfungsketten und eine hohe Exporttätigkeit. So gingen im Jahr 2019 aus der Region wertmässig mehr konjunkturrelevante Waren (Warenexporte ohne Edelmetalle, Edel- und Schmucksteine, Kunstgegenstände und Antiquitäten) ins Ausland als aus dem gesamten Kanton Zürich.

Im verarbeitenden Gewerbe dürfte es noch eine Weile dauern, bis das Vorkrisenniveau der Wertschöpfung wieder erreicht wird. Für das gesamtschweizerische verarbeitende Gewerbe erwartet die KOF, dass dies bis Anfang 2022 dauern wird. Der andere produzierende Bereich, das Baugewerbe, wird noch mehr Mühe haben, das Vorkrisenniveau wieder zu erzielen. Die KOF rechnet nicht damit, dass dies in den nächsten zwei Jahren der Fall sein wird. Neben einem sich sowieso schon harzig entwickelnden Wohnungsbau dürften aufgrund der Pandemie auch Pläne im Wirtschaftsbau zurückgestellt werden.

Die Ostschweiz braucht wohl ebenfalls einen langen Atem, bis die Wirtschaftsleistung insgesamt wieder das Vorkrisenniveau erreichen wird. Das hohe Gewicht des verarbeitenden Gewerbes muss dabei allerdings kein Nachteil sein. Denn Waren sind momentan international eher mobiler als Menschen. So fehlen dem Gastgewerbe trotz der vielen einheimischen Gäste die Reisenden aus dem Ausland. Auch wirtschaftliche Dienstleistungen sind grenzüberschreitend schwieriger zu erbringen – ungeachtet des Trends hin zu Videokonferenzen. Zu Beginn der Epidemie in China wurde angenommen, dass sie die globale Konjunktur vor allem durch unterbrochene Lieferketten beeinträchtigt – und dass etwa in der Schweiz notwendige Vorprodukte nicht mehr ankommen. Mit dem Übergang zur Pandemie zeigte sich aber, dass in dieser Krise besonders die Dienstleistungsbereiche leiden. Denn persönliche Kontakte, die hier besonders wichtig sind, müssen reduziert werden. Daher erwartet die KOF, dass es im Wirtschaftsbereich Finanzdienstleistungen und sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen noch bis Ende 2022 dauern könnte, bis das Vorkrisenniveau wieder erreicht wird. Wobei dies am zweitgenannten Teilbereich liegt, den wirtschaftlichen Dienstleistungen. Denn die Geschäftslage bei den Finanzdienstleistern ist gut. Im Sammelbereich Verkehr und Gastgewerbe wird es ebenfalls bis weit in das nächste Jahr hinein dauern, bis das Vorkrisenniveau wieder eingeholt wird.

Wir brauchen alle, ob in der Ostschweiz oder in der übrigen Schweiz, Geduld und Durchhaltewillen. Trotz der begonnenen Impfungen benötigt der wirtschaftliche Aufholprozess ­einige Zeit. Der grösste Einbruch scheint aber hinter uns zu liegen. In ihrer ausführlichen Prognose vom Dezember rechnete die KOF trotz der nach wie vor hohen Infektionszahlen nicht mit einem nochmaligen sehr starken zweiten wirtschaftlichen Einbruch. In Zahlen gefasst, rechnete die KOF für die Schweiz mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr um etwa 3 %. In einem negativen Szenario, mit einer starken Verschlechterung der Pandemiesituation, rechnete sie mit einem kleineren Plus von etwa einem halben Prozent. Dies zeigt, dass die mit diesen Prognosen verbundene Unsicherheit weiterhin hoch ist. Und wo stehen wir unter Berücksichtigung der Entwicklungen im Januar? Nun, wohl zwischen diesen beiden Szenarien. 3 % dürften kaum noch zu halten sein. 2 % sind aber noch in Reichweite.

 

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