Schriftenreihe Arbeitsmigration
Verjüngungskur gegen unser Überalterungsproblem
Wer in die Schweiz zieht, ist in aller Regel jung, arbeitswillig und top ausgebildet. Davon profitiert der Schweizer Arbeitsmarkt.

19. Februar 2025
In der Vergangenheit wuchs die Bevölkerung, weil die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter stieg. Künftig wird die Schweiz vor allem wachsen, weil es mehr Menschen im Pensionsalter gibt. Zahlen der UNO und des BFS zeigen, dass in den nächsten 25 Jahren die Zahl der Personen im Rentenalter in der Ostschweiz stark zunehmen wird. Die Zahl der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter stagniert hingegen, könnte laut UNO-Prognosen sogar schrumpfen, da immer weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter in Europa leben und potenziell in die Schweiz ziehen können oder wollen.1
In vielen europäischen Ländern ist der Arbeitskräftemangel bereits stärker spürbar als in der Schweiz. Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter auf dem europäischen Kontinent schrumpft bereits seit 2012. Viele Staaten werden zunehmend versuchen, ihre eigenen Arbeitskräfte zu halten oder zurückzugewinnen.2 Experten sind sich sicher: «Wir werden bald um Zuwanderer kämpfen müssen.»3
Schrumpft in einer alternden Bevölkerung gleichzeitig die Anzahl Personen im erwerbsfähigen Alter, sind damit vielfältige Herausforderungen verbunden: Der Anteil von Rentnern im Verhältnis zu Erwerbstätigen steigt massiv. Dadurch steigen die Kosten für Renten, Gesundheitsversorgung und Pflegeleistungen – insbesondere für die jüngere Generation.
Weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter verringern zudem das Produktionspotenzial einer Volkswirtschaft. Der Fach- und Arbeitskräftemangel ist bereits heute eine der grössten Herausforderungen für Unternehmen in der Ostschweiz. Aufgrund der demografischen Alterung wird sich dieses Problem weiter verschärfen.
2022 traten in der Schweiz mehr Menschen in den Ruhestand, als junge Erwerbstätige nachkamen. Dies führt dazu, dass der Fachkräftemangel allein aufgrund der demografischen Entwicklung zunimmt. Schweizweit werden in den nächsten 10 Jahren schätzungsweise 460’000 Vollzeitarbeitskräfte fehlen.4 Allein in der Ostschweiz werden bis 2035 aufgrund der demografischen Entwicklungen etwa 60’000 Arbeitskräfte fehlen. Das ist dann etwa ein Zehntel der Beschäftigten.5 Die Erwerbsbevölkerung der beiden Appenzell wird gemäss dem Referenzszenario des BFS um 2 bis 3 Prozent schrumpfen. Jene des Kantons St.Gallen stagnieren. Demografische Effekte dürften das BIP-pro-Kopf-Wachstum bis Anfang der 2030er-Jahre jährlich um etwa einen halben Prozentpunkt hemmen.6
Zwar kann Zuwanderung die Probleme einer alternden Bevölkerung nicht vollständig beheben, doch die nachfrageorientierte Zuwanderung trägt wesentlich zur Entschärfung einiger Herausforderungen bei – zum Beispiel im Arbeitsmarkt. Mehr als die Hälfte der Zugewanderten ist im Alter zwischen 18 und 39 Jahren, die allermeisten sind erwerbstätig.7 Um der absehbaren Arbeitskräftelücke nachhaltig zu begegnen, sollen auch inländische Potenziale besser abgerufen werden: Der Fokus muss darauf liegen, den heimischen Arbeitsmarkt zu fördern und die Produktivität zu steigern.
Was nützt es, den inländischen Arbeitsmarkt zu stärken und die Produktivität zu steigern?
Bis 2035 wird das inländische Arbeitskräfteangebot aufgrund der Alterung um rund 297’000 Vollzeitbeschäftigte sinken. Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach Arbeitskräften, was zusätzlich etwa 163’000 Stellen erfordert, selbst unter der Annahme einer steigenden Arbeitsproduktivität. Um diese Lücke zu schliessen, sind mehrere Massnahmen nötig. Schätzungen zufolge könnten etwa durch die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen rund 48’000 und durch die Aktivierung von 65- bis 69-Jährigen etwa 37’000 Vollzeitkräfte mobilisiert werden. Eine überdurchschnittliche Produktivitätssteigerung könnte den Bedarf um etwa 63’000 Stellen verringern.8 Selbst wenn der inländische Arbeitsmarkt entsprechend gestärkt werden könnte, drohen ohne Zuwanderung über 300’000 Stellen unbesetzt zu bleiben.
Es wird also weiter viele Menschen geben, die für einen Job in die Schweiz kommen. Was heisst das für den Arbeitsmarkt?
Die Zuwanderung in die Schweiz war schon immer klar arbeitsmarktgetrieben. Das Bevölkerungswachstum reagiert nachgelagert auf das BIP-pro-Kopf-Wachstum und die Beschäftigungsentwicklung. Zwischen 2002 und 2024 ist die Zahl der Erwerbstätigen in der Schweiz um über 20% angestiegen, von 4,1 Millionen auf 5,3 Millionen.9 Zwei von drei neu geschaffenen Stellen werden von Zugewanderten besetzt.10 Jede dritte Person im Schweizer Arbeitsmarkt besitzt keinen Schweizer Pass.
Zahlreiche Studien versuchen, den Effekt der PFZ mit der EU auf den Arbeitsmarkt zu quantifizieren.11 Insbesondere interessieren Verdrängungseffekte und die Löhne. Im Durchschnitt verdienen Zugewanderte nach ihrer Ankunft etwas weniger, was aber eher auf mangelnde lokale Netzwerke und institutionelles Wissen zurückzuführen ist. Langfristig erreichen oder übertreffen ihre Löhne die der Einheimischen – vor allem weil Zugewanderte oft in höheren Pensen arbeiten.12 Laut den jüngsten Ergebnissen überwiegen die positiven Effekte der PFZ auf den Arbeitsmarkt13/14/15/16. Weshalb kaum Verdrängungseffekte und Lohndruck beobachtet wurden, beschreibt KOF-Arbeitsmarktexperte Dr. Michael Siegenthaler in seinem Gastbeitrag.

Die gesamte Analyse, detaillierte Resultate unserer Mitgliederumfrage und die umfassende Position der IHK St.Gallen-Appenzell finden sie in unserer Schriftenreihe:
Die Position der IHK St.Gallen-Appenzell im Thema Arbeitsmigration
Die Personenfreizügigkeit mit der EU aufrechterhalten
Ohne ausländische Arbeitskräfte geht es nicht. Heute nicht und schon gar nicht in der Zukunft. Die Personenfreizügigkeit mit der EU stellt dabei eine unbürokratische, arbeitsmarktorientierte Zuwanderung sicher. Das ist ein entscheidender Vorteil für die Ostschweizer Wirtschaft (vgl. Grafik): Wer über die Personenfreizügigkeit in die Schweiz kommt, braucht hier eine Stelle oder ausreichend Mittel, um sich selbst zu finanzieren.
Den inländischen Arbeitsmarkt stärken
Die Schweiz ist als Arbeitsland attraktiv. Das soll auch so bleiben. Arbeitskräfte werden rar, nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa. Umso wichtiger werden eine hohe Arbeitsmarktbeteiligung und eine produktive Wirtschaft. Dafür muss sich Arbeit lohnen – hohe Pensen dürfen kein steuerlicher Nachteil sein. Flexible Arbeitsmodelle, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine bessere Integration von älteren Personen in den Arbeitsmarkt können diesen zusätzlich stärken.
Die gesellschaftlichen Herausforderungen angehen – rasch und gezielt
Knapper Wohnraum und überlastete Verkehrsinfrastruktur sind grosse Herausforderungen unserer Zeit. Die Zuwanderung verschärft solche Herausforderungen, sie ist aber nicht deren einziger Treiber. Deshalb kann eine Einschränkung der Zuwanderung auch nicht die einzige Lösung sein. Stattdessen braucht es eine breite Palette an Massnahmen, um Wohnraum und Mobilität fit für die Zukunft zu machen.
Wie haben sich die Qualifikationen der Zugewanderten verändert?
Zuwanderer und ansässige Erwerbstätige sind nicht austauschbar, sie ergänzen einander. Zugewanderte Arbeitskräfte übernehmen oft Jobs, für die sich keine ansässigen Arbeitskräfte finden lassen.17 Der Grossteil der neu Zugewanderten arbeitet in Berufen, in denen ein Fachkräftemangel besteht.18 Die Zugewanderten sind zunehmend hochqualifiziert. Der Anteil der seit 2002 Eingewanderten mit Tertiärabschluss liegt über jenem der Schweizerinnen und Schweizer. Damit hat sich die Qualifikationsstruktur der Einwanderer im Vergleich zu vor 2002 verändert.19 Diese «Qualitätsverbesserung des Humankapitals» dürfte einen positiven Einfluss auf die Arbeitsproduktivität haben. Ein Blick in die Einwanderungsstatistik zeigt zudem: Von den Personen, die 2023 in die ständige ausländische Wohnbevölkerung eingewandert sind und eine Arbeit aufgenommen haben, sind 80% im Dienstleistungssektor beschäftigt.20/21 Der Wandel hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft zeigt sich also auch in der Zuwanderung.
Nur hochqualifizierte Zugewanderte also?
Nach wie vor sind ausländische Arbeitskräfte stark in Berufen vertreten, für die die Anforderungen an die Qualifikation nicht sehr hoch sind, die für eine funktionierende Wirtschaft und Gesellschaft aber sehr wichtig sind. In der Baubranche ist der Ausländeranteil besonders hoch. Über 60% der Beschäftigten in den Berufen der Gipser, Maurer und Isolierer sind ausländische Arbeitskräfte. Bei den Hilfsarbeitern im Hochbau liegt der Anteil sogar bei über 80%. Seit Jahrzehnten sichert die Zuwanderung das Arbeitskräfteangebot im Baugewerbe. Schon vor Einführung der PFZ arbeiteten viele ausländische Arbeitskräfte in diesem Sektor. Ursprünglich kamen sie oft als Saisonarbeiter für eine begrenzte Zeit in die Schweiz.22
Auch in Berufen wie Küchenhilfen und beim Reinigungspersonal machen Schweizer nur noch ein Drittel der Beschäftigten aus. In Teilen des Gesundheitswesens sind ausländische Arbeitskräfte ebenfalls in der Mehrzahl. Die Jobs mit den tiefsten Ausländeranteilen sind Polizisten, Landwirte, Lehrer oder leitende Verwaltungsangestellte. Insgesamt neigen Schweizer zu gut bezahlten, intellektuellen Berufen, in denen ortsspezifische Kenntnisse von Vorteil sind.23
Arbeiten in der Schweiz, wohnen im Ausland: Grenzgänger
Grenzgänger/-innen sind Personen, die in der Schweiz arbeiten, aber in einem anderen EU/EFTA-Staat wohnen, in den sie in der Regel täglich, mindestens aber einmal pro Woche zurückkehren. Die dafür benötigte Grenzgängerbewilligung stellen die kantonalen Behörden unter Nachweis eines Arbeitsvertrags oder verbindlichen Arbeitsangebots aus. Damit einher geht die Versicherung über Schweizer Sozialversicherungen. Diese Bestimmungen sind auf das Abkommen über die Personenfreizügigkeit zurückzuführen.24
In der Schweiz sind knapp 400’000 Grenzgänger/-innen beschäftigt (Stand: Q2 2024), davon ca. 16’500 in der Kernregion Ostschweiz (AI, AR, SG, TG).25 Wenig überraschend hängt ihre wirtschaftliche Bedeutung von der Grenznähe ab: Während im St.Galler Rheintal in Gemeinden wie Diepoldsau oder St.Margrethen Grenzgänger/-innen 15,7% respektive 13,4% der Beschäftigten ausmachen, sinkt dieser Anteil in den Regionen Wil oder See-Gaster typischerweise auf unter 1 % pro Gemeinde.26
Befeuert die Zuwanderung den Fachkräftemangel?
Die Behauptung, dass Zuwanderung den Fachkräftemangel verschärfe, basiert auf der Annahme, dass die erhöhte Nachfrage nach Infrastruktur und Dienstleistungen zusätzliche Fachkräfte erfordere. Studien zeigen jedoch, dass für jede Stelle in exportorientierten Unternehmen 0,6 bis 1,4 Stellen in nichtexportorientierten Sektoren entstehen. Besonders hochqualifizierte Zugewanderte erhöhen den Bedarf an lokalen Dienstleistungen, da sie durch ihr höheres Einkommen tendenziell mehr konsumieren und in ihren beruflichen Tätigkeiten eher auf ergänzendes Personal angewiesen sind: Eine zugewanderte Ärztin braucht auch Praxispersonal. Dieser bis zu einem gewissen Grad selbstverstärkende Effekt hat auch Inländern genützt, indem er zu einem Anstieg der Erwerbsquote, niedriger Arbeitslosigkeit und höheren Realeinkommen beigetragen hat.27 Dem Effekt könnte man durch Produktivitätssteigerungen im lokalen Gewerbe oder mit einer Reduktion des Stellenwachstums im öffentlichen Sektor entgegenwirken, da Letzteres in den letzten Jahren die Privatwirtschaft übertroffen hat.28
Literatur
1 UNO (2024)
2 Zum Beispiel bemüht sich Portugal
mit finanziellen Anreizen, im Ausland
lebende Portugiesen zur Rückkehr in
ihre Heimat zu bewegen.
3 Bandle (2024)
4 Minsch und Wey (2024)
5 Scherrer und Zumbusch (2022)
6 Bill-Körberet al. (2019)
7 BFS (2023, b)
8 Minsch und Wey (2024)
9 SECO (2024, a)
10 Fontana (2023)
11 Der Effekt der Zuwanderung aus
Drittstaaten ist weniger im Fokus
und weniger erforscht, da von der
Schweiz aktiv reguliert wird.
12 Favre et al. (2018)
13 Basten & Siegenthaler (2019)
14 Beerli et al. (2020)
15 Beerli & Peri (2018)
16 Naguib (2019)
17 Müller et al. (2013)
18 Kägi et al. (2011)
19 SECO (2024, a)
20 SEM (2024, b)
21 SECO (2024, a)
22 Feldges (2023)
23 BFS (2024, t)
24 SECO (2024, b)
25 BFS (2024, m)
26 IHK-Research (2022)
27 Siegenthaler et al. (2016)
28 IHK-Research (2024)