Arbeitsmigration
Und was, wenn niemand mehr kommt?
Die Bevölkerung wächst – weil die inländische Erwerbsbevölkerung schrumpft.

13. Dezember 2024, Markus Bänziger
Die Bevölkerung der Schweiz wächst. Bald schon könnte sie 10 Millionen Einwohner betragen. Binnen eines Jahrzehnts sind eine Million Menschen dazugekommen, massgeblich getrieben durch die Zuwanderung. Die Mietpreise in den Städten steigen rapide an, die Infrastruktur gelangt mancherorts an den Anschlag. Volksinitiativen werden lanciert, welche die Zuwanderung begrenzen wollen, kurzum: Wie viele Menschen können in der Schweiz leben?
Was sich liest wie eine Zusammenfassung zeitgenössischer Debatten, stammt so tatsächlich aus den 1960er-Jahren. Damals wuchs die Schweiz binnen 12 Jahren um eine Million, Ingenieure und Architekten planten für 10 Millionen Menschen. Bevölkerungswachstum, die Steuerung der Zuwanderung, das Optimum ausländischer Arbeitskräfte: Fragen, welche die Schweiz bewegen, seit sie Ende des 19. Jahrhunderts zum Zuwanderungsland wurde.
«Seit Ende des 19. Jahrhunderts, und besonders seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, zieht die Schweiz Arbeitskräfte aus anderen Ländern an. Dies hat das Wirtschafts- und damit das Wohlstandswachstum überhaupt erst ermöglicht.»

Die Schweizer Wirtschaft ist eine der erfolgreichsten weltweit und damit attraktiv. Sie sichert einen ausgeprägten und breit verteilten Wohlstand. Dieser Erfolg hat einige Gründe. Einer davon ist die ständige Verfügbarkeit und Mobilität von Arbeitskräften. Seit Ende des 19. Jahrhunderts, und besonders seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, zieht die Schweiz Arbeitskräfte aus anderen Ländern an. Dies hat das Wirtschafts- und damit das Wohlstandswachstum überhaupt erst ermöglicht.
Seit wenigen Jahren aber stehen Arbeitgebende vor bislang nicht gekannten Herausforderungen: Arbeitskräftemangel! Gründe dafür sind drei: die Demografie, der gesellschaftliche Wandel und das überproportionale Stellenwachstum der öffentlichen Verwaltung sowie der staatsnahen Betriebe:
- Demografie: Seit 2019 treten weniger Menschen in den Arbeitsmarkt ein, als in Rente gehen – und wir stehen erst am Anfang, die Schere öffnet sich fortwährend.
- Wohlstandsgewinne ermöglichen einen gesellschaftlichen
Wandel: Über das ganze Leben verteilt, arbeiten Inländer pro Kopf heute deutlich weniger als noch vor 20 Jahren, geschweige denn vor 50 Jahren. Ist die massgebliche Reduktion von Arbeitszeit zugunsten von Lern-, Frei-, Genuss- und Rentenzeit für den Einzelnen ein Segen, so fordert diese Gesellschaft und Wirtschaft ungemein. - Überproportionales staatliches Stellenwachstum: Staatsnahe Betriebe haben die Beschäftigtenzahl seit 1995 um 75%, die öffentliche Verwaltung um 50% erhöht, der private Sektor um nur 17%.
- Es fehlen die Arbeitskräfte, um das nachgefragte Güter- und Dienstleistungsangebot zu erfüllen und die steigenden Ansprüche der Politik zu finanzieren – künftig noch ausgeprägter. Beide Lücken füllen heute ausländische Arbeitskräfte – noch.
Erbarmungslose Demografie
Die Akzeptanz der Arbeitsmigration ist unter Druck. Knapper Wohnraum in den Städten, volle Strassen und Züge zu Stosszeiten, mangelnde Integration bis hin zu Sicherheitsbedenken dominieren die Debatte um die Arbeitsmigration. Es sind Herausforderungen, die ernst zu nehmen sind. Der Zusammenhang zwischen Arbeitsmigration und den Dichtesymptomen ist jedoch nicht so einfach und eindeutig, wie oft dargestellt. Ausserdem wird häufig übersehen, aus welchem Grund Menschen in die Schweiz kommen: Sie übernehmen Arbeiten, die von Einheimischen
nicht geleistet werden können oder möchten!
«Der Zusammenhang zwischen Arbeitsmigration und den Dichtesymptomen ist jedoch nicht so einfach und eindeutig, wie oft dargestellt.»
Markus Bänziger
Die inländische Erwerbsbevölkerung schrumpft: Ein Drittel der Erwerbstätigen ist über 50 Jahre alt. In den nächsten zehn Jahren wird die Zahl der Pensionierten um rund einen Drittel wachsen, während die Zahl der Erwerbsfähigen (20- bis 64-Jährige) stagniert, möglicherweise sogar rückläufig sein wird – insbesondere in den ländlichen Regionen.
Die Schere zwischen den nachgefragten und den verfügbaren Arbeitskräften geht weiter auf. Es gehen uns die Arbeitenden aus. Dieser Lücke lässt sich grundsätzlich auf drei Wegen begegnen:
- Wir akzeptieren diese Lücke, und Stellen bleiben unbesetzt. Das drückt nicht nur auf die Wirtschaftsentwicklung und damit unseren Wohlstand. Die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen leidet.
- Wir arbeiten mehr. Das heisst: früherer Berufseinstieg, höhere Jahresarbeitszeiten, spätere Pensionierung.
- Wir besetzen freie Stellen mit ausländischen Arbeitskräften. Damit wächst gleichzeitig die Bevölkerung, zumindest so lange, wie es der Schweiz wirtschaftlich gut geht und die Generationen zahlenmässig im Ungleichgewicht sind.
Keine Option ist ohne Nachteile. Die schwerwiegendsten volkswirtschaftlichen Schäden entstehen, wenn insgesamt weniger Arbeit geleistet wird. Produkte- und Dienstleistungsangebot würden eingeschränkt, die Wertschöpfung insgesamt reduziert und die Finanzierung der Vorsorgewerke und der staatlichen Aufgaben gedrosselt. Das inländische Erwerbspotenzial muss sodann bestmöglich ausgeschöpft werden. Das wird aber nicht ausreichen. Die demografische Rechnung geht schlicht nicht auf.
Nachfrageorientierte Zuwanderung bleibt entscheidend
Und die Schweiz steht mit dieser Problematik nicht alleine da. Auch in unseren Nachbarländern, aus denen ein Grossteil der hiesigen Arbeitsmigranten stammt, schrumpft die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter erheblich. In Italien und Deutschland etwa wird die Zahl der Erwerbstätigen in den nächsten 10 Jahren um 12 Prozent sinken. Der Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte werde sich verschärfen, sind Fachleute überzeugt. Umso wichtiger wird der unbürokratische Zugang zu ausländischen Arbeitskräften.
«Wer über die Personenfreizügigkeit in die Schweiz kommt, hat entweder einen Arbeitsvertrag oder die Mittel, um sich selbst zu finanzieren.»
Markus Bänziger
Die Schweiz ist auf eine effiziente Arbeitsmigration angewiesen und damit auch auf die Personenfreizügigkeit mit der EU. Diese steuert die Zuwanderung, und zwar über den Arbeitsmarkt: Wer über die Personenfreizügigkeit in die Schweiz kommt, hat entweder einen Arbeitsvertrag oder die Mittel, um sich selbst zu finanzieren.
Ja, eine wachsende Bevölkerung ist eine Herausforderung. Aber eine schrumpfende Bevölkerung ist ein Problem. Auf ausländische Arbeitskräfte kann die Schweiz weder heute noch in Zukunft verzichten. Die Folgen der Zuwanderung lassen sich hingegen mit einer breiten Massnahmenpalette bewältigen. Darauf sollten wir uns vermehrt konzentrieren, wenn wir über die Zuwanderung diskutieren.
Bevölkerungswachstum schafft Herausforderungen.
Arbeitsmigration ist und bleibt jedoch entscheidend. Drei Stossrichtungen sind wichtig:
Die gesellschaftlichen Herausforderungen angehen – rasch und gezielt.
- Knapper Wohnraum und überlastete Verkehrsinfrastruktur sind grosse Herausforderungen unserer Zeit.
- Die Zuwanderung verschärft solche Herausforderungen, sie ist aber nicht deren einziger Treiber. Deshalb kann eine Einschränkung der Zuwanderung auch nicht die einzige Lösung sein.
- Stattdessen braucht es eine breite Palette an Massnahmen, um Wohnraum und Mobilität fit für die Zukunft zu machen.
Den inländischen Arbeitsmarkt stärken.
- Die Schweiz ist als Arbeitsland attraktiv. Das soll auch so bleiben. Arbeitskräfte werden rar, nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa.
- Umso wichtiger werden dabei eine hohe Arbeitsmarktbeteiligung und eine produktive Wirtschaft. Dafür muss sich Arbeit lohnen – hohe Pensen dürfen kein steuerlicher Nachteil sein.
- Flexible Arbeitsmodelle, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine bessere Integration von älteren Personen in den Arbeitsmarkt können den Arbeitsmarkt zusätzlich stärken.
Arbeitsmarktorientierte Migration ermöglichen: die Personenfreizügigkeit mit der EU aufrechterhalten.
- Ohne ausländische Arbeitskräfte geht es nicht. Heute nicht und schon gar nicht in Zukunft.
- Die Personenfreizügigkeit mit der EU stellt dabei eine unbürokratische, arbeitsmarktorientierte Zuwanderung sicher. Das ist ein entscheidender Vorteil für die Ostschweizer Wirtschaft: Wer über die Personenfreizügigkeit in die Schweiz kommt, braucht hier eine Stelle oder ausreichend Mittel, um sich selbst zu finanzieren.