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Struktureller Wandel seit 1880

Wie sich die Bedeutung der Branchen in der Ostschweiz veränderte Struktureller Wandel seit 1880

Dr. Frank Bodmer, Leiter volkswirtschaftliche Analysen IHK

Die Ostschweizer Wirtschaft steht unter Druck, vor allem seit sich der Schweizer Franken so stark aufgewertet hat. Der Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch, dass die Anpassung an neue Rahmenbedingungen schon immer die Regel war. Seit Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu grossen Verschiebungen. So beschäftigt die einst dominierende Textilindustrie heute gerade noch 1 % der Berufstätigen in der Ostschweiz. Die Zukunft der Ostschweiz liegt in der Industrie 4.0.

Das Umfeld war für die Ostschweizer Wirtschaft in den letzten Jahren schwierig. Vor allem der seit 2008 um etwa 25 % aufgewertete Schweizer Franken stellt eine grosse Herausforderung dar. Der Blick in die Vergangenheit zeigt aber, dass Veränderungen und die Anpassung an neue Rahmenbedingungen die Regel waren. Seit Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu gewaltigen Verschiebungen. Diese waren für die Betroffenen oft schmerzhaft, stellten aber gleichzeitig die Basis für Erfolg und Wohlstand der Region dar. Die aktuellen Herausforderungen können damit unter dem Aspekt des Strukturwandels gesehen werden. Sie führen fast zwangsläufig zu einem starken Anstieg der Produktivität und dürften mittelfristig den Wissens- und Technologiestandort Ostschweiz stärken. Mit dem starken Franken bleibt der Ostschweizer Wirtschaft fast nichts anderes übrig, als die vierte industrielle Revolution (Stichwort Industrie 4.0) beschleunigt zu bewältigen.

Lange Industrietradition

Die Ostschweiz war schon Ende des 19. Jahrhunderts stark industrialisiert und weit davon entfernt, eine vornehmlich landwirtschaftlich geprägte Region zu sein.1 1880 machte das verarbeitende Gewerbe praktisch die Hälfte aller Beschäftigten aus, dazu kamen noch etwa 8 % im Baugewerbe. Die Landwirtschaft beschäftigte 30 % der Erwerbstätigen, die diversen Dienstleistungsbranchen gerade einmal 12 %. Den höchsten Industrieanteil wiesen dabei die beiden Appenzell aus, während St. Gallen und vor allem der Thurgau noch viele rein landwirtschaftlich geprägte Zonen hatte. Die Textilindustrie war dominierend, vor allem die Stickerei, gefolgt von der etwas weniger bedeutenden Weberei. Die Landwirtschaft und die Textilindustrie verloren in den folgenden Jahrzehnten an Bedeutung, zuerst zugunsten von bereits damals aufstrebenden Dienstleistungsbranchen wie Handel und Transport, vor allem ab dem 1. Weltkrieg dann auch zugunsten der Maschinen- und Metallindustrie. Diese setzte ihren Aufschwung bis in die 1970er-Jahre fort. 1975 erreichte sie einen Beschäftigungsanteil von 16 %. Die einst dominierende Textilindustrie beschäftigte 1975 gerade noch 8 % der Berufstätigen. Der Industrieanteil war mit 38 % aber nach wie vor sehr hoch. Aktuell macht dieser immer noch etwa 25 % der Beschäftigten aus, wozu die Textil- und Bekleidungsindustrie aber gerade noch einen Prozentpunkt beiträgt.

Handel, Stukturwandel und steigende Einkommen

Die Industrie prosperierte natürlich nicht dank der regionalen Nachfrage, sondern exportierte einen Grossteil ihrer Produkte in die restliche Schweiz und vor allem ins Ausland. Bis etwa in die 1950er-Jahre war der Erfolg der Industrie auf den nationalen und internationalen Märkten der alles dominierende Treiber für die Entwicklung der Ostschweizer Wirtschaft. Das setzte voraus, dass laufend neue Produkte und Verfahren entwickelt und neue Märkte erschlossen wurden. Einige Branchen verloren in diesem Prozess, entweder weil die Schweiz nicht mehr wettbewerbsfähig war und die Produktion in andere Länder verschoben wurde oder weil die Nachfrage nach den Produkten gleich ganz verschwand. Dieser Prozess war für die betroffenen Unternehmen und ihre Beschäftigten zwar schmerzhaft, erlaubte gesamthaft aber eine steigende Produktivität und damit auch steigende Einkommen der breiten Bevölkerung. Der Rückgang der Textilindustrie und der Aufstieg der übrigen Industriebranchen veranschaulichen diesen Prozess sehr deutlich. Von den steigenden Einkommen profitierten vor allem die Dienstleistungsbranchen. Die steigenden Einkommen ermöglichten nämlich eine Nachfrage nach Gütern, welche bisher für breite Bevölkerungsschichten nicht erschwinglich waren und dem Luxus zugeordnet wurden. Viele von diesen waren mit Dienstleistungen verbunden.

Neue Wachstumstreiber

Für viele Regionen der Ostschweiz bleibt der Export von Gütern, sei es in Form von Industrieprodukten oder sei es in Form von Dienstleistungen wie Tourismus, der zentrale Wachstumstreiber. Mit der Verbesserung der Transportmöglichkeiten ergab sich für die Ostschweizer Bevölkerung vermehrt die Möglichkeit, ausserhalb der Region zu arbeiten. Diese ausserhalb verdienten Einkommen wurden gerade für die Regionen in der Nähe von Zürich immer bedeutender und stellen inzwischen einen wichtigen Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung der Ostschweiz dar. In weiter von Zürich entfernten Regionen besteht diese Möglichkeit weniger. Mit dem Aufstieg des Wohlfahrtsstaates wurde eine weitere regionale Einkommensquelle wichtiger, nämlich die vom Staat bezahlten Einkommen. Diese Mittel fliessen innerhalb eines Kantons an einzelne Gemeinden oder Haushalte. Es fliessen aber auch erhebliche Mittel des Bundes, einerseits an die Kantone, andererseits direkt an die Haushalte oder Betriebe. Im Bundesfinanzausgleich finden sich alle vier Ostschweizer Kantone auf der Nehmerseite. In vielen anderen Bereichen wie der Hochschulbildung fliessen ebenfalls Bundesmittel. Zudem bezieht die Landwirtschaft einen erheblichen Teil ihres Einkommens über Zuschüsse vom Bund. Dazu kommen noch Zahlungen aus den Sozialversicherungen, welche von schweizweiten Prämieneinnahmen und Steuermitteln finanziert werden. Der Aufstieg des Staates zeigt sich auch in den Beschäftigungszahlen. Der Bereich der staatsnahen Dienstleistungen, mit öffentlicher Verwaltung, Gesundheit, Sozialem und Bildung, erlebte einen rasanten Aufschwung und macht inzwischen in der Ostschweiz fast 20 % der Beschäftigten aus.

Strategien für die Zukunft

Um die aktuellen Herausforderungen zu meistern, stehen für die Ostschweiz wohl vor allem zwei Strategien im Vordergrund. Erstens gilt es in die Zukunft der Industrie zu investieren. Die Ostschweiz bleibt auch weiterhin auf die von der Industrie geschaffene Wertschöpfung angewiesen. Die Zukunft der in der Ostschweiz wichtigen MEM-Branchen liegt dabei in Industrie 4.0, dem verstärkten Einsatz von Robotik und Internet. Die zweite Strategie muss auf eine Verbesserung der Attraktivität als Wohnort zielen. Verbesserte Verkehrsverbindungen, die zunehmende Dichte in Zürich und seiner Umgebung und lokale Vorzüge haben bereits jetzt aus vielen Ostschweizer Gemeinden attraktive Wohnorte für Pendler gemacht. Die Attraktivität als Wohnort verbessert zudem auch die Rekrutierungsmöglichkeiten der lokalen Unternehmen für neues Personal aus dem In- und Ausland.