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Spitalwandel gestalten statt erleiden

Der externe Standpunkt Spitalwandel gestalten statt erleiden

Dr. Jérôme Cosandey, Directeur romand & Forschungsleiter Finanzierbare Sozial­politik, Avenir Suisse

Die Schweiz leistet sich zu viele Spitäler, die zu viele Leistungen bieten. Darunter leidet die Qualität, weil manche Eingriffe zu selten durchgeführt werden. Somit verlieren Spitäler an Attraktivität – nicht nur bei Patienten, sondern auch bei dem immer knapper werdenden Fachpersonal. Eine Spezialisierung an wenigen Hauptstandorten, ergänzt mit dezentralen Notfallangeboten, wie dies der Kanton St. Gallen anstrebt, drängt sich auf.

Die Schweiz geniesst im internationalen Vergleich eine sehr hohe Spitaldichte und zählt im ganzen Land etwa 180 Akutspitäler sowie 100 Rehabilitations- und Psychiatriekliniken. Zum Vergleich: Die Stadt London mit 8,5 Millionen Einwohnern, etwa gleich viel wie die ganze Schweiz, zählt nur 39 Akutspitäler. Klar sind die Distanzen dort geringer. Doch punkto Erreichbarkeit kann die Schweizer Bevölkerung nicht klagen. 99,8 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner erreichen mit dem Auto innert dreissig Minuten ein Allgemeinspital (siehe Abbildung). Drei Viertel der Bevölkerung können dabei aus acht verschiedenen Spitälern auswählen.

Spitalsektor unter Druck

Die zahlreichen Schweizer Spitäler stehen unter Druck. Wegen des technischen Fortschritts braucht es immer teurere Geräte, was kostspielige Investitionen bedingt. Auch werden mit der Technisierung die Spitalaufenthalte immer kürzer. Zudem gibt es politischen Druck, mehr Behandlungen ambulant durchzuführen, also ohne Übernachtung im Spital. Das ist gut für die Patienten, aber bei kürzerer Aufenthaltsdauer brauchen die Spitäler weniger Betten, es entstehen Überkapazitäten. Zuletzt wurde die Spital­finanzierung 2012 mit der Einführung der DRG-Fall­pauschalen gründlich verändert. Neu folgt das Geld dem Patienten oder der Patientin. Die Spitäler werden nicht mehr direkt subventioniert, was zu einer Verschärfung des Wettbewerbs führte. Folglich ist eine Strukturbereinigung unausweichlich. Die Spitäler müssen entweder untereinander besser kooperieren oder durch Fusionen oder Spezialisierungen effizienter werden.

Staats- statt Marktversagen

Entgegen diesen Konsolidierungskräften beobachtet man strukturerhaltende Bewegungen. Viele Kantone versuchen, ihre Spitäler vor dem Wettbewerb zu schützen, indem sie als Eigner teure (Über-)Investitionen in Milliardenhöhe finanzieren oder via Subventionen (gemeinwirtschaftliche Leistungen), Kontingente oder Tarifeinschränkungen den Wettbewerb verzerren. Diese Interventionen werden gerne als Massnahme zur Reduktion des sogenannten Marktversagens porträtiert. Damit nimmt man aber politisch Staatsversagen in Kauf. So sind in den Kantonen Neuenburg, Zürich, Basel-­Stadt und Basel-­Land in den letzten zwei Jahren Restrukturierungs- beziehungsweise Fusionsprojekte, die unternehmerisch wichtig und richtig gewesen wären, durch politisch-demokratische Entscheide ausgehebelt worden.

Zentren mit Satelliten als Ziellösung

Sich vor Staatsversagen zu schützen ist schwierig. Als Prämienzahler hätten die Bürger gerne weniger Spitäler, weil dann die Gesundheitskosten weniger stark steigen würden. Doch als Kranke möchten sie ein Spital in der Nähe haben. Dieses Dilemma können wir nicht lösen, solange Nähe mit Qualität gleichgesetzt wird. Gerade für komplexere Eingriffe sollte man bereit sein, ein Spital aufzu­suchen, das etwas weiter entfernt ist. Dafür führen dort die Chirurgen und ihre Teams nicht nur ein paar Dutzend, sondern Hunderte solcher Eingriffe pro Jahr durch.
Wichtig ist, dass man überall in der Nähe eine Notaufnahme hat, wo Patienten bei einem Unfall oder Herzversagen schnell stabilisiert werden können. Anschliessend können sie in ein spezialisiertes Zentrum überführt werden oder mit Spitex-Begleitung nach Hause zurückkehren.
Die angestrebte Konzentration im Kanton St. Gallen folgt dieser Logik und ist zu unterstützen. Klar kann und sollte man über die Details des Konzepts diskutieren, das heisst, die Frage klären, welche Leistungen wo bis wann erbracht werden sollten. Doch die Zielrichtung stimmt.

Es geht primär um Qualität, nicht um Kosten

Mit sinkenden Fallzahlen in peripheren Schweizer Spitälern kann die Qualität immer schwerer aufrechterhalten bleiben. Spricht es sich herum, werden noch weniger Patienten die entsprechenden Spitäler aussuchen, und so beginnt eine gefährliche, kostenintensive Abwärtsspirale.
Diese wird die Rekrutierung von qualifiziertem Personal erschweren. Bei ausgeprägtem Fachkräftemangel können Ärzte und Pflegefachpersonen ihren Arbeitsort beliebig aussuchen. Ein Karriereschritt in einer Institution mit tiefen Fallzahlen heisst längere Ausbildungsdauer, bis man die nötige Anzahl Eingriffe vorweisen kann – zum Beispiel für das Erlangen eines FMH-Titels. Eine Stelle in einem Spital mit unterdurchschnittlicher Qualität will niemand in seinem Curriculum haben.
Eine zukunftsträchtige Spitalstrategie trägt deshalb dieser Entwicklung Rechnung. Eine Konzentration von spezialisierten Spitälern auf wenige Standorte bei gleichzeitigem Erhalt von dezentralen Notfallstandorten ist also weniger eine finanzielle Angelegenheit als eine Notwendigkeit, um die Qualität und somit den Zugang zu qualifiziertem Personal zu sichern.
Der Wunsch vieler St. Galler nach einem spezialisierten Spital unmittelbar in der Nähe ist verständlich. Doch der Kampf um Fachkräfte wird jeden Bürger und jede Bürgerin rasch auf den Boden der Realität zurückholen. Nichts tun, der Status quo, ist keine nachhaltige Lösung. Je schneller und proaktiver die Dualstrategie – spezialisierte Zentren mit dezentralen Notfallsatelliten – angegangen wird, desto grösser werden die Chancen sein, eine qualitativ hochstehende, bürgernahe und bezahlbare Ver­sorgung zu haben.

 

Dr. Jérôme Cosandey, Directeur romand & Forschungsleiter Finanzierbare Sozial­politik, Avenir Suisse

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