Sie sind hier

Ostschweiz neu positionieren

Wie sich die steuerbaren Einkommen im Vergleich zur Schweiz entwickelt haben Ostschweiz neu positionieren

steuerbare Einkommen, Ostschweiz, Transformation, Frank Bodmer

Dr. Frank Bodmer, Leiter volkswirtschaftliche Analyse IHK

Nach dem zweiten Weltkrieg lag die Ostschweiz bezüglich des steuerbaren Einkommens hinter dem schweizerischen Mittel zurück. Dank der Blütezeit der MEM-Industrie konnte die Ostschweiz aufholen und bis in die 1990er-Jahre fast zum Durchschnitt aufschliessen. Seither hat die Ostschweiz insgesamt wieder an Boden verloren. Insbesondere der Kanton St. Gallen entwickelt sich zum Problemfall, liegt er doch nur noch an fünftletzter Stelle aller Kantone.

Wie Unternehmen müssen sich auch Kantone und Gemeinden von Zeit zu Zeit strategisch neu ausrichten, um erfolgreich zu bleiben. Die lokal verankerten Branchen spielen zwar eine wichtige Rolle. Manchmal reicht es aber nicht aus, sich auf die traditionellen Stärken zu verlassen. Die Ostschweiz durchläuft seit Beginn der 1990er-Jahre eine solche Phase der Neuorientierung. Spätestens dann begann die dominierende MEM-Branche an Bedeutung zu verlieren. Zwar stellen die Firmen der MEM-Branche noch immer das Rückgrat der Ostschweizer Exportwirtschaft dar. Dazu braucht es aber noch weitere Motoren.

Aufholen in der Nachkriegszeit

Die Entwicklung der Ostschweiz seit Ende des 2. Weltkrieges lässt sich anhand der steuerbaren Einkommen der natürlichen Personen sehr schön verfolgen. 1950 lagen die vier Ostschweizer Kantone St. Gallen, Thurgau und die beiden Appenzell beim steuerbaren Einkommen pro Kopf gegenüber dem schweizerischen Mittel mehr oder weniger stark zurück. Der Thurgau lag bei etwa 80 % des schweizerischen Mittels, der Kanton St.Gallen folgte mit rund 75 % und Appenzell Ausserrhoden mit etwa 70 %. Das damals stark ländlich geprägte Appenzell Innerrhoden kam lediglich auf etwa 25 %.

Bis 1970 konnten alle vier Kantone aufholen, Innerrhoden sogar bis heute. Der Thurgau erreichte 1970 ein erstes Plateau von knapp 100 % des schweizerischen Mittels und fiel dann zuerst langsam, zwischen 1990 und 2000 schneller zurück. Nach dem Jahr 2000 konnte der Thurgau aber wieder Boden gutmachen.

SG und AR fallen zurück

St. Gallen erreichte dieses Plateau 1990, als der Kanton auf 92 % des schweizerischen Mittels kam. Seither verliert St. Gallen kontinuierlich an Boden und fand sich 2013, dem letzten Jahr mit vorhandenen Daten, noch bei 84 %. Damit liegt St. Gallen inzwischen an fünftletzter Stelle aller 26 Kantone und Halbkantone. Nur Neuenburg, Wallis, Uri und der Jura schneiden noch schlechter ab. Auch für Appenzell Ausserrhoden war 1990 das bisher erfolgreichste Jahr, als das schweizerische Mittel leicht überschritten wurde. Und wie St. Gallen verliert auch Ausserrhoden seither kontinuierlich an Boden, erreicht aktuell aber immerhin noch etwa 90 % des schweizerischen Mittels.

MEM-Blütezeit beflügelt

Die Boomphase der MEM-Industrie von 1950 bis 1970 erlaubte es der Ostschweiz, gegenüber anderen Regionen Boden gutzumachen. Der Beschäftigungsanteil der MEM-Branchen erreichte in den frühen 70er-Jahren seinen Höhepunkt (IHKfacts 2/2016). Die nächsten 30 bis 35 Jahre bis zum Beginn der Finanzkrise 2007 waren durch mehrere Zyklen geprägt. Beschäftigungsmässig konnte die Branche bis 1991 noch einmal leicht zulegen, verlor anteilsmässig aber an Boden. Die Branche hat die aktuelle Krise zwar gut gemeistert und viele Ostschweizer Firmen sind weiterhin sehr erfolgreich auf den Weltmärkten tätig.

Neue Strategie in AI und TG

Obwohl die Ostschweizer MEM-Industrie weiterhin erfolgreich ist, reicht das allein für die Ostschweiz nicht mehr aus, um gegenüber anderen Regionen aufzuholen. Es gibt zwar in einigen anderen Branchen eine vielversprechende Entwicklung, genannt seien die erstarkende Informatikbranche oder das Wachstum von Finanzdienstleistungen und Nahrungsmittelindustrie. Diese konnten aber offensichtlich nicht verhindern, dass die Region als Ganzes wieder zurückgefallen ist. Die beiden erfolgreichen Kantone, Thurgau und Appenzell Innerrhoden, haben sich denn auch auf eine zweite Strategie verlassen und zusätzlich auf ihre Attraktivität als Wohnort gesetzt. Appenzell Innerrhoden punktet mit tiefen Steuern, Bürgernähe und einer schönen Landschaft, profitiert aber auch von der Nähe zur Stadt St. Gallen. Der viel grössere Thurgau weist ähnliche Vorteile auf, orientiert sich aber vor allem in Richtung Zürich.

SG und AR suchen neue Strategie

Der Kanton St. Gallen ist noch grösser und vor allem sehr viel heterogener als der Kanton Thurgau. Eine Strategie, welche vor allem auf die Attraktivität als Wohnort und die Nähe zu Zürich setzt, ist damit nicht möglich. Allerdings weist der Kanton St. Gallen mit Wil und Rapperswil ebenfalls zwei regionale Zentren auf, welche für Pendler nach Zürich sehr attraktiv sind. Beide Regionen sind in den letzten Jahren zwar relativ stark gewachsen, es wäre aber wahrscheinlich noch mehr möglich gewesen. Sowohl in St. Gallen als auch in Appenzell Ausserrhoden scheint aber eine andere Strategie im Vordergrund gestanden zu haben: Die Erhöhung der öffentlichen Ausgaben im Versuch, die Attraktivität des Kantons auf diese Weise zu erhöhen. Appenzell Ausserrhoden konnte zwar wieder ein leichtes Bevölkerungswachstum erreichen und das Zurückfallen bei den steuerbaren Einkommen bremsen. Als eigentlichen Erfolg lässt sich das allerdings noch nicht bezeichnen.

Problemfall Kanton St. Gallen

Noch mehr Sorge muss die Entwicklung von St. Gallen bereiten, dem grössten Kanton der Region. War der Kanton bis in die 1980er-Jahre noch der Motor der Ostschweiz, so ist die aktuelle Situation von Schwäche und Orientierungslosigkeit geprägt. Der Kanton fällt zurück, ohne dass dies von Politik oder Öffentlichkeit gross als Problem wahrgenommen wird. Die Politik verlässt sich anscheinend auf das nach wie vor vorhandene Eigenkapitalpolster, um im Wesentlichen so weiterzumachen wie bisher. Zur Pflege lokaler Befindlichkeiten ist weiterhin viel Geld vorhanden, erinnert sei nur an die Investitionen in die bestehende Spitalstruktur oder die vielen teuren Bauprojekte von fraglicher volkswirtschaftlicher Bedeutung. Für eine eigentliche Zukunftsstrategie fehlen dann die Mittel. Schlimmer noch: Es scheint die Einsicht zu fehlen, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Angesichts der Langsamkeit der Politik und der Tatsache, dass der Kanton sein finanzpolitisches Pulver bereits verschossen hat, verheisst dies für die nächste Zukunft nichts Gutes.