Schweiz-EU

Ohne Europa geht es nicht

Die Partnerschaft zur EU und die Bilateralen I werden mit der Begrenzungsinitiative infrage gestellt. Die Ostschweiz wäre besonders stark betroffen.

31. August 2020, Markus Bänziger, Erika Schönenberger

Die Partnerschaft zur EU und insbesondere die Bilateralen I werden mit der Begrenzungsinitiative einmal mehr infrage gestellt. Die Ostschweiz wäre besonders stark betroffen.

Das Jahr 2020 steht für die IHK St. Gallen-Appenzell ganz im Zeichen von Bündnissen. Auf nationaler Ebene geht es darum, das Generationenbündnis aufzuschnüren und zukunftsfähig zu machen. International ist das Bündnis Schweiz–EU von grosser Bedeutung. Aussenminister Ignazio Cassis hat dies am Business Outlook der IHK im Pfalzkeller im Februar hervorgehoben: In seiner aussenpolitischen Vision für die Schweiz bis ins Jahr 2028 (AVIS28) zeichnet er eine enge und entwicklungsfähige Partnerschaft mit unserer grossen Nachbarin. Dass wir dieser Vision bereits heute ziemlich nahe sind, konnten wir jüngst im Zuge der Corona-Krise erleben: Beim Thema Grenzöffnung sass die Schweiz – wenn auch virtuell – gleichrangig mit den EU- und EWR-Staaten am Tisch. Der Bundesrat wiederum sprach 400 Millionen Franken an der von Brüssel organisierten Geberkonferenz. Wie stark die Bande sind, wie fest wir uns an offene Grenzen gewöhnt haben und diese auch einfordern, war wohl am eindrücklichsten am Grenzzaun in Kreuzlingen zu sehen. In starkem Kontrast dazu steht die Begrenzungs-Initiative der SVP. Diese würde bei einem Ja aufgrund der Guillotine- Klausel zu einer Kündigung der Bilateralen I führen und somit die wirtschaftliche Basis mit unserer wichtigsten Handelspartnerin in Frage stellen. Denn die Schweiz profitiert massgeblich vom gegenseitigen Marktzugang, ja selbst mehr als die meisten EU-Mitgliedstaaten. Den Zugang zum grössten Wirtschaftsraum der Welt mit dem rund 50-fachen Marktpotenzial nutzt sie wie keine Zweite: Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt auf, dass die Schweiz mit einem jährlichen Einkommenszuwachs von 2900 Euro pro Kopf am stärksten vom EU-Binnenmarkt profitiert – und dies notabene als Nichtmitglied der Union.

Ostschweiz überdurchschnittlich betroffen

Was auf die Schweiz als Ganzes zutrifft, gilt umso mehr für die Ostschweiz. Denn während die Schweiz jeden zweiten Franken im Ausland mit der EU verdient, sind es für die Ostschweiz mit rund zwei von drei Franken noch deutlich mehr. Der starke Handel lässt sich vor allem anhand der geografischen Lage erklären: Mit Deutschland und Österreich grenzt die Ostschweiz an zwei wirtschaftlich starke EU-Mitgliedstaaten. Rund die Hälfte aller Exporte in die EU entfallen denn auch auf diese beiden Länder. Die starke wirtschaftliche Verflechtung mit unserer Nachbarin würde der Ostschweiz bei einem Ja zur Kündigungsinitiative allerdings zum Verhängnis. Eine Studie der BAK Basel im Auftrag der IHK St. Gallen-Appenzell und der IHK Thurgau kommt zum Ergebnis, dass der Wegfall der Bilateralen I die Ostschweizer Wertschöpfung alleine im Jahr 2040 um 7,4% beeinträchtigen würde. Am stärksten betroffen wäre der Thurgau mit einem Minus von 7,9%. Zum Vergleich: Die Einbussen für das Schweizer BIP werden auf 6,5% geschätzt. Anschaulicher werden diese Zahlen auf die Verluste pro Kopf heruntergebrochen. Im Jahr 2040 spürt jede Schweizerin und jeder Schweizer die Kündigung der Bilateralen I mit 4280 Franken weniger im Portemonnaie. Für die Ostschweiz wären es sogar 4506 Franken pro Person. Alleine für 2040 entginge unserer Region so eine Wertschöpfung von 6 Milliarden Franken. Für den Zeitraum von 2030 bis 2040 beliefe sich die Einbusse auf 55 Milliarden Franken. Eine enorme Summe, die in etwa dem jährlichen Bruttoinlandsprodukt Sloweniens entspricht.

Vorleistungen und Fachkräfte

Auch die vermeintlich binnenmarktorientierten Unternehmen würden eine Annahme der Initiative zu spüren bekommen. Dafür sprechen insbesondere drei Gründe. Erstens werden 75% der Vorleistungen von Schweizer Exporten hierzulande erbracht. Zweitens tragen die Exporte massgeblich zum (Ost)schweizer Wohlstand bei. Die verminderten Einkommensströme aus dem Ausland würden auch die Nachfrage in Sektoren des Binnenmarkts beeinträchtigen. Schliesslich bringen die Bilateralen I auch systemische Effekte mit sich, welche die Attraktivität der gesamten Wirtschaft erhöhen. Das Forschungsabkommen stärkt beispielsweise den Innovationsstandort Schweiz. Das Abkommen zum Luftverkehr trägt zur Standortattraktivität unseres Landes bei.
Der EU-Binnenmarkt ist nicht nur zentral für den Absatz von Gütern, sondern auch für die Akquise von Fachkräften. Diese wird durch das Freizügigkeitsabkommen erleichtert. 20 Prozent der hiesigen Arbeitskräfte stammen denn auch aus dem EU-28/EFTA-Raum. Von diesen arbeiten drei Viertel in Branchen mit hohen oder sehr hohen Qualifikationsanforderungen. Durch die von den Initianten angestrebte Kündigung der Personenfreizügigkeit würde es deutlich schwieriger, dringend gesuchte Fachkräfte aus dem nahen Ausland zu gewinnen; der Fachkräftemangel würde sich verschärfen.

Wohlstand dank stabilen Beziehungen

Angesichts dieser deutlichen Zahlen mutet die Begrenzungs-Initiative der SVP anachronistisch – ja wie aus der Zeit gefallen – an. Anstatt die Beziehung Schweiz–EU infrage zu stellen, sind wir aufgrund der Blockade der WTO mehr denn je auf regionale Kooperationen angewiesen. Anders als die angeschlagene Welthandelsorganisation sichern diese uns Rechtssicherheit sowie Marktzugang und somit Wohlstand. Bereits 1387 erkannte die Ostschweiz den Wert von Bündnissen, als St. Galler Kaufleute das erste Freihandelsabkommen mit Nürnberg abschlossen. Auch über 600 Jahre später versteht es die Ostschweiz, mit ihren Nachbarn regen Handel zu treiben. 63,7% aller Exporte verlassen unsere Region in Richtung Europäische Union. Damit ist die EU nicht nur mit Abstand unsere wichtigste Handelspartnerin und somit der Absatzmarkt der Exportwirtschaft, sondern auch eine wichtige Stütze der Ostschweizer Wirtschaft und hiesiger Arbeitsplätze. Anstatt das Bündnis Schweiz–EU beinahe jährlich durch Referenda und Initiativen infrage zu stellen, sollten wir dieses zukunftsgerichtet gestalten. Bundesrat Cassis skizziert in der Vision AVIS28, dass die Schweizer Interessenwahrung in der Welt bei Europa beginnt. Die Ostschweiz tut gut daran, bereits heute damit anzufangen.