Zwischen Kontinuität und Wandel
Metamorphose im Toggenburg
Die Berlinger Gruppe musste sich immer wieder anpassen. Unternehmerin und IHK-Präsidentin Andrea Berlinger Schwyter erzählt im Interview, wie dies gelang.
20. September 2024, Fabian Pernstich
Wer in der Ostschweizer Wirtschaft nach Wandelbarkeit sucht, stösst schnell auf die Berlinger Gruppe aus dem Toggenburg. Das Familienunternehmen hat sich in seiner Geschichte immer wieder neu erfunden. Wie Wandel gelingt, was dieser bewirken kann und welche Elemente der Kontinuität wichtig sind, verrät Andrea Berlinger Schwyter, Inhaberin der Berlinger Special AG sowie Präsidentin der IHK St.Gallen-Appenzell.
Andrea, was bedeutet Wandel für dich?
Seit meinen ersten beruflichen Erfahrungen im elterlichen Unternehmen im Alter von etwa 20 Jahren prägt mich das Zitat: «Die einzige Konstante im Leben ist der Wandel.» Die unternehmerischen Herausforderungen unseres Familienunternehmens konnten meine Vorfahren sowie ich nur mit dem Wandel bewältigen, nie gegen den Wandel. Dieser ist unabwendbar. Veränderung ist im ersten Moment oftmals etwas Unangenehmes. Routinen müssen gebrochen und die eigene Komfortzone verlassen werden. Je offener man gegenüber Veränderung ist, desto leichter fällt einem der Wandel im eigenen Leben.
«Wer den Wandel in den richtigen Momenten begrüsst, surft auf einer Welle des Aufbruchs und der Freude.»
Die Geschichte der Berlinger Gruppe ist geprägt von disruptivem Wandel, auch aufgrund von Krisen. Warum ist Wandel erforderlich?
Fortschritt bedingt Wandel. Wer versucht, die Gegenwart zu konservieren, der erliegt einem Trugschluss: Stillzustehen ermöglicht es keinesfalls, im Status quo zu verweilen. Wer sich nicht bewegt, fällt zurück. Sowohl unsere Gesellschaft als auch unsere Wirtschaft erfordern Wachstum und Fortschritt. Die Geschichte unseres Familienunternehmens hat uns mehrfach gezwungen, uns anzupassen. Entweder wir richteten uns neu aus oder das Unternehmen hätte es nicht mehr gegeben. Wer im Wandel Chancen erkennt, besteht und gewinnt. Heute befinden wir uns glücklicherweise in einer Situation, in der wir den Wandel aus freien Stücken begrüssen dürfen. In meinen Jahren als Unternehmerin habe ich gelernt: Wer den Wandel in den richtigen Momenten begrüsst, surft auf einer Welle des Aufbruchs und der Freude. Ist man dabei auch noch erfolgreich, ist dies eines der befriedigendsten Gefühle, welches man als Unternehmerin erfahren kann.
Zur Person:
Andrea Berlinger Schwyter (*1968) verbrachte die ersten 21 Jahre ihres Lebens in Wil SG. Sie lebt heute in Ganterschwil, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Gemeinsam mit ihrem Mann leitete sie von 2008 bis 2018 das Familienunternehmen in sechster Generation und führte das Unternehmen an die Weltspitze in der Herstellung von Anti-Doping-Produkten. Seit 2018 präsidiert das Ehepaar den Verwaltungsrat. Am 19. Juni 2024 wurde Andrea Berlinger in Wil zur IHK-Präsidentin gewählt.
Ihr habt im Juni dieses Jahres den Verkauf eurer Temperaturüberwachungssparte an die US-amerikanische Sensitech Inc. bekannt gegeben. Was waren die Beweggründe?
Berlinger Gruppe entwickelte in den vergangenen drei Jahren eine der weltweit modernsten Plattformen für das Cold Chain Monitoring von Impfstoffen, Pharmaprodukten und Clinical Trials. Diese global agierende Industrie verlangt nach lückenloser weltweiter Präsenz und entsprechend flexiblen Lösungen in den jeweiligen Märkten. Als Eigentümerfamilie wollen wir mit dem Verkauf des Temperaturüberwachungsgeschäfts ein nachhaltiges Wachstum der Sparte sicherstellen und die Dienstleistungen und Produkte weltweit optimal positionieren. Wir fokussieren uns auf das Anti-Doping-Geschäft; im Rahmen der strategischen Neuausrichtung eröffnet dies neue Chancen.
«Mir persönlich hat es geholfen, mich mit Menschen im Unternehmen zu umgeben, denen ich vollends vertraue.»
Andrea Berlinger Schwyter
Im August dieses Jahres hast du die operative Leitung des Anti-Doping-Geschäftes an eine junge vierköpfige Geschäftsleitung übergeben. Für viele Familienbetriebe in der Ostschweiz ist die Nachfolgeregelung eine Herausforderung. Wie nimmst du diesen Prozess wahr?
Die Nachfolgeregelung ist eine der schwierigsten Aufgaben einer Unternehmerin oder eines Unternehmers. Besonders für Familienunternehmungen und inhabergeführte Betriebe ist dieser Prozess mitunter ein sehr persönlicher. Wer sein ganzes Leben Herzblut gegen alle Widrigkeiten für sein Produkt und seine Mitarbeitenden investiert hat, identifiziert sich auch mit der Unternehmung. Dies aufzugeben fällt nicht leicht. Ich empfehle allen Unternehmerinnen und Unternehmern, diesen Prozess frühzeitig anzugehen. Man sollte sich schon 10 bis 15 Jahre vor dem geplanten Austritt aus der operativen Leitung Gedanken machen. Es benötigt Zeit, um die Nachfolgeregelung mit maximalen Chancen auf Erfolg einerseits und im Einklang mit den eigenen Erwartungen an die Unternehmenskultur andererseits zu gestalten. Mir persönlich hat es geholfen, mich mit Menschen im Unternehmen zu umgeben, denen ich vollends vertraue. Man wird selbst bei einer Übergabe gefordert, man sollte aber auch andere fördern. Vertrauen ist keine Einbahnstrasse.
Gibt es in eurer Firmengeschichte auch Elemente der Kontinuität?
Konstant sind für mich vor allem Werte. Während der gesamten Berlinger Firmenhistorie stand der Mensch im Mittelpunkt. Dies ist auch heute noch so. Entscheidend für den unternehmerischen Erfolg ist die Zusammenstellung eines fähigen, kompetenten Teams, dessen Ganzes mehr bewirkt als die Summe seiner Teile. Meine Erfahrungen als Unternehmerin haben gezeigt, dass Grossartiges entstehen kann, wo die richtigen Menschen kreativ und offen miteinander arbeiten.
Zum Unternehmen:
Die Berlinger Gruppe wurde 1865 in Ganterschwil als Weberei gegründet. Der Betrieb überstand zahlreiche Krisen: einen Fabrikbrand, die Kriegsjahre sowie den Niedergang der Textilbranche. Die Unternehmerfamilie überwand alle Krisen, indem sie sich immer wieder neu erfand. Von Leinen für Bucheinbände über Kletthaftverschlüsse, Doping-Kontroll Produkte bis hin zu Temperaturmessgeräten: Das Familienunternehmen blieb stets wandelbar. Im Juni dieses Jahres hat das Unternehmen den Verkauf des Temperaturüberwachungsgeschäfts bekannt gegeben. Das Anti-Doping-Geschäft der Berlinger Special AG bleibt weiterhin in Familienbesitz.
Die Berlinger Gruppe war immer in Ganterschwil tätig. Welche Vorzüge bieten für euch das Toggenburg sowie die Ostschweiz generell?
Das Toggenburg, aber auch die gesamte Ostschweiz empfinde ich als bodenständig und strebsam. Man vertraut einander, man kennt sich. Es ist ein unternehmerisches Umfeld der Nähe mit all seinen Vor- und Nachteilen. Dieses persönliche Verhältnis zu den Menschen ist der entscheidende Vorteil gegenüber einem anonymeren Umfeld. Daraus ergeben sich für Unternehmerinnen und Unternehmer kurze, pragmatische Entscheidungswege.
Zwischen Wandel und Kontinuität befindet sich auch die IHK. Im Juni wurden sieben bisherige und acht neue Vorstandsmitglieder von der Generalversammlung für eine neue Amtsperiode gewählt. Allen voran sprachen sich die Mitglieder für dich als ihre neue Präsidentin aus. Was ändert sich bei der IHK unter deiner Präsidentschaft, welche Bemühungen werden weiterverfolgt?
Wir werden uns weiter für bestmögliche Rahmenbedingungen für die Wirtschaft in der Ostschweiz einsetzen. Dabei ist die Rolle der IHK als Brückenbauerin zwischen Gesellschaft, Politik und Medien wichtiger denn je. Die Stärke des «Modells Schweiz» liegt in ihrem unermüdlichen Willen zum Konsens. Unsere politischen Mühlen mögen zwar langsam mahlen, deren Ergebnisse sind aber nachhaltig, da sie von der Mehrheit mitgetragen werden. Dieses Erfolgsmodell des Konsenses droht durch die zunehmende Polarisierung in unserer Gesellschaft zu erodieren. Orientiert am liberalen Wertekompass, steht gerade die IHK auch in Zukunft für eine sachliche und fundierte Grundlagen- und Kommunikationsarbeit sowie die Konsenssuche im wirtschaftspolitischen Dialog.
Der Wille zum Konsens ist vergleichbar mit dem eingangs erwähnten Willen zum Wandel: Das Zugehen auf Andersdenkende, das Auseinandersetzen mit anderen Meinungen verlangt oftmals Kraft und Überwindung. Die eigene Komfortzone muss man verlassen können, das eigene Denken muss stets wieder hinterfragt werden. Befindet man sich aber in einem echten Dialog, schafft dies gegenseitiges Verständnis und wir können als Gesellschaft wachsen.
«Man spürt im Vorstand den Glauben an das Gute und den positiven Willen, etwas bewirken zu wollen.»
Andrea Berlinger Schwyter
Der im Juni gewählte IHK-Vorstand ist äusserst engagiert, die darin repräsentierten Unternehmen widerspiegeln die aussergewöhnlich vielfältige Wirtschaftsstruktur der Ostschweiz. Man spürt im Vorstand den Glauben an das Gute und den positiven Willen, etwas bewirken zu wollen. Das stimmt mich positiv für die Zukunft.
Der neue Vorstand der IHK St.Gallen-Appenzell