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Man kann den Roboter nicht alleine lassen!

Zukünftige Anforderungen an Arbeitnehmende Man kann den Roboter nicht alleine lassen!

Alessandro Sgro, Chefökonom IHK

Die fortschreitende Digitalisierung und der einhergehende technologische Wandel fordern nicht nur die Unternehmen per se, sondern insbesondere auch die Mitarbeitenden sowie die angehenden Arbeitskräfte. Zukünftig sind andere Schlüsselkompetenzen gefordert. Sind die Bildungsinstitutionen und die Schweizer Wirtschaft genügend gut vorbereitet, und was bedeutet der digitale Wandel für die zukünftigen Arbeitnehmenden aus der Bildungsoptik? Ein Gespräch mit Prof. Dr. Stefan C. Wolter, Professor für Bildungs­ökonomie an der Universität Bern und Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF).

Roboter ersetzen Fabrikarbeitende, Computer erledigen Aufgaben von Büroangestellten. Herr Wolter, bedeutet die zunehmende Digitalisierung der Wirtschaft das Ende der Arbeit?

Nein. Diese Angst, dass neue Technologie die Arbeit ersetzt, war permanent schon immer da. Das wird immer wieder schnell vergessen. Man denkt immer, jetzt sei es einzigartig.

… es werden aber auch Stellen weg­fallen …

… ja, und neue werden entstehen und bestehende werden sich verändern. Diskussionen, wie sich die Technologie auf die Nachfrage nach Arbeitskräften auswirkt, fokussieren sich häufig auf bestehende Arbeitsplätze. Das mag Aufschluss darüber geben, welche Berufe am stärksten von der Veränderung betroffen sein könnten, aber weit weniger über das Entstehen von noch nicht existierenden Berufen der Zukunft.

Was meinen Sie damit?

Ich bin zuversichtlich, dass die Zukunft neue Produkte bringen wird, die man sich heute kaum vorstellen kann und die wir in Zukunft als notwendig oder sogar als unverzichtbar erachten. Diese Produktinnovationen werden mit neuen Berufen und Dienstleistungen einhergehen. Es ist deshalb unsinnig zu glauben, dass Computer und Roboter bei allen Tätigkeiten einen absoluten und komparativen Vorteil gegenüber dem Menschen haben werden.

Wie wird denn die Beziehung zwischen Menschen und Robotern künftig sein?

Grundsätzlich sind Arbeiten und Dienstleistungen, die der Mensch immer noch lieber von einem anderen Menschen bezieht als von einer Maschine, in der nächsten Zeit nicht gefährdet.

Routinearbeiten werden hingegen laufend ersetzt. Besonders am aktuellen technologischen Wandel ist jedoch, dass durch künstliche Intelligenz auch gut ausgebildete Arbeitnehmende ersetzt werden. Aber am Schluss gilt: Man kann den Roboter nie alleine lassen. Es braucht immer den Menschen, der Prozesse mit seinem Wissen überwacht und wenn nötig eingreift.

Welche Branche oder Berufsgruppe wird als Nächstes am stärksten betroffen sein?

Der Detailhandel. Das Einzige, was heute noch fehlt, sind Roboter, die im Laden die Gestelle auffüllen. Der Beruf Detailhandelsfachfrau/ -mann, wie wir ihn heute kennen, wird sich grundlegend verändern. Momentan findet noch kein disruptiver Wandel in der Branche statt, weil noch kein grosser Anbieter den Schritt gemacht hat. Es braucht dafür aber keine technologischen Innovationen mehr – die sind schon da und markterprobt. Aktuell werden sie einfach noch sehr zurückhaltend eingesetzt. In anderen Branchen, wie zum Beispiel in der MEM-Industrie oder im Bankensektor, ist der Konkurrenzdruck so hoch, dass Innovationen schneller den Markt durchdringen. Im Oligopol Detailhandel haben die Akteure etwas mehr Spielraum.

Ist dieser Prozess der Veränderung hin zu einer digitaleren Wirtschaft disruptiv oder evolutionär?

Grundsätzlich ist die Digitalisierung ein evolutionärer Prozess. Aber ähnlich wie wir es beim Klimawandel beobachten, können sich disruptive Ereignisse innerhalb eines evolutio­nären Prozesses häufen. So wie wir auf eine Häufung von Naturkatastrophen vorbereitet sein müssen, müssen wir auch besser auf solche Disruptionen in der Digitalisierung vorbereitet sein. Dazu sollte viel mehr in Szenarien gedacht werden. Wenn die Digitalisierung eine Branche plötzlich vollständig durchdringt und die Unternehmen deshalb nur noch in einem geringen Ausmass auf Arbeitskräfte angewiesen sind, müssen wir in der Lage sein, diesen Schock auf dem Arbeitsmarkt abzu­federn.

Worin besteht hier die Schwierigkeit, wenn der technologische Wandel jeweils neue Stellen schafft?

Die Schwierigkeit besteht darin, dass teilweise ein Mismatch zwischen dem Tätigkeitsprofil einer freigestellten Person und dem Anforderungsprofil einer neu entstandenen Stelle besteht. Die Frage ist somit, wie wir die Schlechterstellung der betroffenen Personen verhindern können. Denn wenn Stellen aus einem bestimmten Niveau verdrängt werden, führt dies oftmals dazu, dass Betroffene ohne entsprechende Umschulung Arbeit annehmen müssen, für die sie überqualifiziert sind. Dies kann eine Polarisierung auf dem Arbeitsmarkt verursachen. Dies ist ernst zu nehmen, weil sie auch eine politische Polarisierung nach sich ziehen kann.

Es scheint, dass die zukünftigen Arbeitnehmenden frühzeitig in den digitalen Kompetenzen gefördert werden müssen. Benötigen wir eher «Frühprogrammierung» anstelle von «Frühenglisch»?

Ich bin der Meinung, dass unsere Generation manchmal fälschlicherweise annimmt, man müsse digitale Medien bereits im Kindergarten strukturiert in den Lehrplan einbauen, damit die Kinder mit der Entwicklung mithalten können. Die meisten Kinder wachsen auf natürliche Weise mit den neuen Technologien auf. Trotzdem darf man nicht vergessen, die klassischen Disziplinen weiterhin auf hohem Niveau zu lehren. Der Mensch soll nicht ein Sklave der Digitalisierung werden, der auf Roboter angewiesen ist, sondern eigene Fähigkeiten haben. Man soll alle Tools der Digitalisierung einsetzen, aber dies befreit nicht davon, ein Verständnis für grund­legende Konzepte zu entwickeln.

Sind unsere Bildungsinstitutionen genügend auf die zukünftigen Kompetenzanforderungen vorbereitet? Halten sie mit dem hohen Tempo der digitalen Transformation Schritt?

Die Schweizerische Koordinationsstelle der Bildungsforschung (SKBF) hat dazu neue Auswertungen aus der obligatorischen Schule bis zur Sekundarstufe II gemacht. Es lässt sich in dieser Hinsicht ein starker Rösti- und Polentagraben feststellen. In der Westschweiz und im Tessin ist die Digitalisierung der Bildung kaum ein Thema. In der Deutschschweiz ist die ­Infrastruktur zwar vorhanden, aber die Nutzungsintensität zum Beispiel von Lernplattformen ist dennoch niedrig. Hier besteht noch ein grosses Verbesserungspotenzial. Interessanterweise werden digitale Tools am häufigsten in Sprachfächern eingesetzt. Das ist nicht untypisch. Schon früher war die Technologie in den Sprachen besonders präsent. Damals waren es dann eben Kassetten oder Programme im Fernsehen. In MINT-Fächern, wo sich der Einsatz speziell anbietet, könnte aber noch viel herausgeholt werden.

Wo müssen wir ansetzen, um das zu verbessern?

Die Lehrpersonen sind der Kern der Veränderung. Der Fokus des Berufs wird sich weg von der reinen Stoffvermittlung und hin zu mehr lernpsychologischer Arbeit verschieben. Lehrerinnen und Lehrer müssen wissen, wann sie auf welche Tools zugreifen können und wann die Anwendung auch angebracht ist. Denn es ist nicht in allen Bereichen förderlich, digital zu lehren und zu lernen.

Welche Rolle spielen die Unternehmen?

Auch den Unternehmen kommt eine be­deutende Rolle zu. Sie sind für die technischen Fähigkeiten ihrer Auszubildenden und somit ihrer zukünftigen Belegschaft ver­antwortlich. Die duale Berufsbildung unterstützt die Digitalisierung, indem sie die ­Ausbildung der Lernenden agiler macht. Denn die Unternehmen sind unabhängig vom Schulwesen und müssen nicht darauf warten, dass technologische Entwicklungen in der Schule ankommen. Der Betrieb kann die Ausbildung individuell gestalten und die Lernenden in die neuesten Technologien einführen oder neue Kompetenzen ver­mitteln.

Welche Schlüsselkompetenzen braucht es denn im digitalen Zeitalter?

Es ist wichtig, dass wir uns vor Augen halten, dass aufgrund der Digitalisierung nicht alle in der Lage sein müssen, Roboter zu bauen oder Software zu entwickeln. Nur ein ganz kleiner Teil der Bevölkerung ist dafür verantwortlich, die Digitalisierung voranzutreiben. Die Aufgabe einer weiteren kleinen Gruppe ist es, existierende technische ­Möglichkeiten möglichst gewinnbringend in die aktuellen Prozesse zu integrieren. Dafür braucht es Expertise. Die allermeisten Personen auf dem Arbeitsmarkt benötigen vor allem die für ihren Beruf wichtige «Digital ­Literacy».

Was bedeutet das?

Das bedeutet, dass jeder die digitalen ­Geräte, die in seinem Berufsfeld eingesetzt werden, bedienen kann. Sei dies die digitalisierte Billettkontrolle im Zug oder das Online-­Buchungssystem eines Coiffeurs. In diesem Sinne wird herkömmliche Berufs­bildung, welche grundlegende Fach- und Sozialkompetenzen vermittelt, weiterhin wichtig bleiben.

Die aktuellen Aktivitäten zielen sehr stark auf die Ausbildung junger Arbeitskräfte. Bis zukünftige Arbeitskräfte mit den geforderten Kompetenzen im Arbeitsmarkt sind, vergeht eine gewisse Zeit. Wie hoch ist das Potenzial für Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger mit begleiteten Umschulungen?

Als Verwaltungsratspräsident der MEM-Passerelle 4.0 schätze ich das Potenzial sehr hoch ein. Es wird viel von Fachkräftemangel gesprochen. Wir stellen aber fest, dass Unternehmen noch immer ausschliesslich zwei Kanäle zur Personalrekrutierung nutzen: die Berufslehre im eigenen Betrieb – oder wenn es zeitlich drängt, werden Fachkräfte von der Konkurrenz abgeworben. Es braucht einen dritten Weg: ein Angebot für ausgebildete Arbeitnehmende, die zusätzlich spezifische Kompetenzen für eine neue Stelle benötigen. Das Projekt MEM-Passerelle 4.0 soll solche Umschulungen für Personen mit Erstausbildung ermöglichen, vorerst in der MEM-Industrie.

Wo sehen Sie die Herausforderungen, dass dieses Vorhaben klappt?

Wir müssen in den Unternehmen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass sich dies langfristig auszahlt. Einerseits können auf diese Weise schneller neue Arbeitskräfte gewonnen werden als durch die Berufslehre. Andererseits bleiben Arbeitnehmende einem Unternehmen auch länger treu, das in ihre Weiterbildung investiert hat. Zudem verfügen sie danach über viel firmenspezifisches Know-how, das man nicht einfach auf dem Arbeitsmarkt findet. Eine grosse Herausforderung wird es aber auch sein, Personen mit einer sicheren Stelle davon zu überzeugen, prospektiv zu denken und sich umschulen zu lassen.

Ein Kernpunkt dürfte auch in der Finanzierung einer solchen Umschulung für Erwachsene liegen?

Die Passerelle ist ähnlich der Berufslehre so aufgebaut, dass ein Ausbildungsvertrag abgeschlossen wird, wobei vereinbart werden kann, ob die Arbeitnehmenden gemäss dem Arbeitsanteil oder voll entlöhnt werden. Der Betrieb spart auf diese Weise auch Einarbeitungskosten, die dann in der Ausbildung mitinbegriffen sind. Diese Herausforderungen sind lösbar. Ich bin überzeugt, dass die MEM-Passerelle 4.0 den Fachkräftemangel in naher Zukunft verringern kann.

Stefan Wolter – Direktor der ­Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF)

Der Bildungsökonom Stefan C. Wolter ist seit 1999 Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) in Aarau. Er verantwortet den nationalen Bildungsbericht, der alle vier Jahre erscheint. Der 55-Jährige ist zudem Professor an der Universität Bern und Lehrbeauftragter an der Universität Basel sowie Verwaltungsratspräsident der MEM-Passerelle 4.0 AG.

 

MEM-Passerelle zur Reduzierung des Fachkräftemangels

Die MEM-Passerelle 4.0 AG wurde im Dezember als Initiative der Sozialpartner der MEM Industrie gegründet und wird durch diese finanziert. Sie hat zum Ziel, Modelle zu schaffen, die es Berufsleuten ermöglichen, ihren angestammten Beruf (und Betrieb) zu verlassen und mittels einer intensiven Umschulung in einem neuen Beruf der MEM-Industrie Fuss zu fassen. Damit soll auch ein Beitrag zur Linderung des Fachkräftemangels geleistet werden, der sich angesichts des demographischen Wandels abzeichnet.